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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Die Mißstände in der Kleider- und Wäscheindustrie

schütz einbezogncn Heimbetrieb auf die reine Familienarbeit einzuschränken, die
ihrer ganzen Natur nach eine andre gewerbepolizeiliche Behandlung verlangt.

Für den Heimbetrieb in diesem Sinne halten wir gewerbepolizeiliche Vor¬
schriften, die die Arbeitsdauer und Arbeitspausen festsetzen, für ebenso undurch¬
führbar wie ein Verbot der Kinderarbeit. Unzweifelhaft findet das Übermaß
der Arbeit vor allem im Hcimbetrieb eine Stätte, und der Staat kann gewiß
nicht gleichgiltig zusehen, wenn sich diese Mißstünde zum gemeinschädlichem
Notstand entwickeln. Aber die plumpe polizeiliche Schablone kann auf das
Thun und Lassen im Innern der Familie nicht angewendet werden, jede wirk¬
same Kontrolle wäre hier unerträglich. An andrer Stelle ist aber eine gewisse
Kontrolle doch möglich und unerläßlich: in dem Betriebe des Arbeitgebers, des
Konfektionärs und des Zwischenmeisters, der die Arbeit ausgiebt. Diese Leute
wissen ganz genau, daß oder wann ihre Heimarbeiterinnen im Übermaß
arbeiten müssen, und sie haben es sehr wohl in der Hand, diesem Übermaß
Einhalt zu thun, wenn sie nur etwas guten Willen haben. Deshalb kann man
verlangen, daß der Arbeitgeber für seinen Betrieb gewisse Grenzen festsetze, in
denen die Arbeit an die Heimarbeiterinnen ausgegeben wird, und daß über
diese Arbeit fortlaufend Buch geführt werde. Geeignete Mittel dazu sind, wie
die Erhebungen und andre Erfahrungen lehren, Arbeitsordnungen und Lohnbücher.

Eine gewisse Aufsicht über den Heimbetrieb der Konfektionsindustrie wird
übrigens auch dadurch nötig, daß, wie sich herausgestellt hat, die Heimarbeiter,
auch wohl die Leiter von Arbeitsstuben, bei ansteckenden Krankheiten sträflich
fahrlässig mit den Arbeitsstücken umgehen. Selbst diphtheritiskmnke Kinder sollen
iucht selten mit Stoffen in Berührung kommen, die zu Kleidungsstücken ver¬
arbeitet in den Handel kommen, ganz abgesehen von der viel häufigern Ver¬
schleppung der Schwindsuchtskeime. Natürlich ist im einzelnen Falle eine An¬
steckung durch ein neues Kleidungsstück fast niemals nachzuweisen. Man wird
alles andre eher denken, als an den neuen Rock. Aber gerade deshalb hat
^'r Staat dieser Ansteckungsgefahr, soweit er kann, entgegenzuarbeiten, und
dazu muß ex wissen, wo und von wem solche Arbeiten ausgeführt werden.
Schon aus diesem Grunde ist eine Bestimmung nötig, wonach jeder gewerb¬
liche Arbeitgeber, der die Herstellung von Kleidern oder Wäsche an Außen¬
arbeiter vergiebt, diese bei der Polizei anzumelden hat. Das amerikanische
Verfahren der äußerlichen Kennzeichnung und Verekelung aller in Heim-
betrieben angefertigten Kleider bis zum Verkauf an den Verbraucher trifft nicht
die Ansteckungsgefahr und verdient in Deutschland keine ernsthafte Beachtung.
Bei uns steht, was nicht vergessen werden darf, auch in dieser Beziehung Kon¬
sektion und Handwerk wohl ziemlich gleich. Nach den Vernehmungen scheint
es, daß die Krankenkassenärzte weit mehr, als das bisher geschieht, an der
Lösung solcher Aufgaben mitarbeiten und, wenn nötig, dazu gezwungen werden
sollten.


Die Mißstände in der Kleider- und Wäscheindustrie

schütz einbezogncn Heimbetrieb auf die reine Familienarbeit einzuschränken, die
ihrer ganzen Natur nach eine andre gewerbepolizeiliche Behandlung verlangt.

Für den Heimbetrieb in diesem Sinne halten wir gewerbepolizeiliche Vor¬
schriften, die die Arbeitsdauer und Arbeitspausen festsetzen, für ebenso undurch¬
führbar wie ein Verbot der Kinderarbeit. Unzweifelhaft findet das Übermaß
der Arbeit vor allem im Hcimbetrieb eine Stätte, und der Staat kann gewiß
nicht gleichgiltig zusehen, wenn sich diese Mißstünde zum gemeinschädlichem
Notstand entwickeln. Aber die plumpe polizeiliche Schablone kann auf das
Thun und Lassen im Innern der Familie nicht angewendet werden, jede wirk¬
same Kontrolle wäre hier unerträglich. An andrer Stelle ist aber eine gewisse
Kontrolle doch möglich und unerläßlich: in dem Betriebe des Arbeitgebers, des
Konfektionärs und des Zwischenmeisters, der die Arbeit ausgiebt. Diese Leute
wissen ganz genau, daß oder wann ihre Heimarbeiterinnen im Übermaß
arbeiten müssen, und sie haben es sehr wohl in der Hand, diesem Übermaß
Einhalt zu thun, wenn sie nur etwas guten Willen haben. Deshalb kann man
verlangen, daß der Arbeitgeber für seinen Betrieb gewisse Grenzen festsetze, in
denen die Arbeit an die Heimarbeiterinnen ausgegeben wird, und daß über
diese Arbeit fortlaufend Buch geführt werde. Geeignete Mittel dazu sind, wie
die Erhebungen und andre Erfahrungen lehren, Arbeitsordnungen und Lohnbücher.

Eine gewisse Aufsicht über den Heimbetrieb der Konfektionsindustrie wird
übrigens auch dadurch nötig, daß, wie sich herausgestellt hat, die Heimarbeiter,
auch wohl die Leiter von Arbeitsstuben, bei ansteckenden Krankheiten sträflich
fahrlässig mit den Arbeitsstücken umgehen. Selbst diphtheritiskmnke Kinder sollen
iucht selten mit Stoffen in Berührung kommen, die zu Kleidungsstücken ver¬
arbeitet in den Handel kommen, ganz abgesehen von der viel häufigern Ver¬
schleppung der Schwindsuchtskeime. Natürlich ist im einzelnen Falle eine An¬
steckung durch ein neues Kleidungsstück fast niemals nachzuweisen. Man wird
alles andre eher denken, als an den neuen Rock. Aber gerade deshalb hat
^'r Staat dieser Ansteckungsgefahr, soweit er kann, entgegenzuarbeiten, und
dazu muß ex wissen, wo und von wem solche Arbeiten ausgeführt werden.
Schon aus diesem Grunde ist eine Bestimmung nötig, wonach jeder gewerb¬
liche Arbeitgeber, der die Herstellung von Kleidern oder Wäsche an Außen¬
arbeiter vergiebt, diese bei der Polizei anzumelden hat. Das amerikanische
Verfahren der äußerlichen Kennzeichnung und Verekelung aller in Heim-
betrieben angefertigten Kleider bis zum Verkauf an den Verbraucher trifft nicht
die Ansteckungsgefahr und verdient in Deutschland keine ernsthafte Beachtung.
Bei uns steht, was nicht vergessen werden darf, auch in dieser Beziehung Kon¬
sektion und Handwerk wohl ziemlich gleich. Nach den Vernehmungen scheint
es, daß die Krankenkassenärzte weit mehr, als das bisher geschieht, an der
Lösung solcher Aufgaben mitarbeiten und, wenn nötig, dazu gezwungen werden
sollten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/459>, abgerufen am 08.01.2025.