Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Die Mißstände in der Kleider- und lVLscheindustrie und der handwerksmäßigen Maßschneiderei nicht ersichtlich. Hier wie dort sind Wenn wir die strenge Durchführung der Arbeiterschutzbestimmnngen be¬ Die Mißstände in der Kleider- und lVLscheindustrie und der handwerksmäßigen Maßschneiderei nicht ersichtlich. Hier wie dort sind Wenn wir die strenge Durchführung der Arbeiterschutzbestimmnngen be¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0458" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224042"/> <fw type="header" place="top"> Die Mißstände in der Kleider- und lVLscheindustrie</fw><lb/> <p xml:id="ID_1376" prev="#ID_1375"> und der handwerksmäßigen Maßschneiderei nicht ersichtlich. Hier wie dort sind<lb/> die Zustände vielfach entsetzlich verwahrlost, und es ist dringend nötig, daß die<lb/> Polizei energisch vorgeht. Der Schlendrian, die kleinliche, spießbürgerliche<lb/> Pfennigfuchserei, die sich gegen jede Neuerung wehrt unter dem Vorwande der<lb/> Kostspieligkeit und des Zeitaufwandes, spielt in diesen Verhältnissen eine un¬<lb/> glaubliche Rolle. § 120 a der Gewerbeordnung giebt der Behörde die zum<lb/> Einschreiten nötigen Vollmachten. Aber Herr von Boetticher sagte am<lb/> 12. Februar, gerade in der Konfektionsindustrie stünden der Anwendung dieses<lb/> Paragraphen besondre Schwierigkeiten entgegen. Die Vernehmungen werden<lb/> ihn darüber hoffentlich eines bessern belehren. Die Klagen, die laut geworden<lb/> sind, betreffen fast nur Mißstände, die auf Nachlässigkeit, Trägheit und Un¬<lb/> ordnung beruhen. Kosten verursacht ihre Abstellung so gut wie keine. Aber<lb/> es ist eben noch niemals Ernst gemacht worden mit der Anwendung des 12t) ü<lb/> auf die Werkstätten. Die hohe Polizei fängt, wie es scheint, allmählich selbst<lb/> an, daran zu glauben, daß sie hier vor unüberwindlichen Schwierigkeiten stehe,<lb/> die nun einmal in den neuzeitlichen „Verhältnissen" begründet seien, vor einem<lb/> „Massenelend," gegen das man nichts thun könne, solange nicht das „kapita¬<lb/> listische Wirtschaftssystem" durch großartige, allumfassende Reformen beseitigt<lb/> sei. Wir bitten Herrn von Boetticher recht dringend, nur einmal die Probe<lb/> machen zu lassen. Wenn die Bürgermeister, die Polizeiverwalter, die Polizci-<lb/> leutnants und die Schutzleute unter Leitung und Oberaufsicht der Gewcrbc-<lb/> inspektorcn nur einmal ein Jahr lang in der Anwendung des 8 120 a ihre volle<lb/> Schuldigkeit thun müßten, so würde das Wunder wirken. Was übrigens<lb/> die Räumlichkeiten selbst betrifft, so ist in den Großstädten dank der Barone<lb/> die Lage der Werkstätten und Arbeitsstuben gegen die alten Handwerksverhält¬<lb/> nisse viel besser geworden, und von Zuständen, wie sie im Osten Londons<lb/> vorkommen sollen, wo bis zwanzig russische Juden in einem engen Zimmer<lb/> arbeiten und schlafen, ist in den deutschen Großstädten im allgemeinen nichts<lb/> zu bemerken.</p><lb/> <p xml:id="ID_1377" next="#ID_1378"> Wenn wir die strenge Durchführung der Arbeiterschutzbestimmnngen be¬<lb/> züglich aller Werkstätten fordern, so müssen wir daran erinnern, daß wir unter<lb/> Werkstätte jeden Arbeitsraum (auch wenn er zugleich Wohn-, Schlaf- und<lb/> Kochraum ist) verstanden wissen wollen, worin auch nur eine nicht zur Familie<lb/> gehörige Hilfsperson mit Gewerbearbeit, also hier mit Konfektionsarbeit, be¬<lb/> schäftigt wird, und außerdem noch verlangen, daß auch in dem Falle, daß<lb/> nur Familienangehörige beschäftigt werden, dann ein schutzpslichtiger Betrieb<lb/> angenommen wird, wenn diese Familienangehörigen als Lohnarbeiter auf Grund<lb/> eines Vertragsverhältnisses thätig sind. Die Beschäftigung fremder Hilfspersvnen<lb/> ist uns aber so sehr die Hauptsache, daß wir das zweite Verlangen gern zurück¬<lb/> stellen, sobald etwa durch seine Erfüllung die ganze Maßregel aufgehalten<lb/> werden sollte. Es kommt uns darauf an, den nicht in den gesetzlichen Arbeiter-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0458]
Die Mißstände in der Kleider- und lVLscheindustrie
und der handwerksmäßigen Maßschneiderei nicht ersichtlich. Hier wie dort sind
die Zustände vielfach entsetzlich verwahrlost, und es ist dringend nötig, daß die
Polizei energisch vorgeht. Der Schlendrian, die kleinliche, spießbürgerliche
Pfennigfuchserei, die sich gegen jede Neuerung wehrt unter dem Vorwande der
Kostspieligkeit und des Zeitaufwandes, spielt in diesen Verhältnissen eine un¬
glaubliche Rolle. § 120 a der Gewerbeordnung giebt der Behörde die zum
Einschreiten nötigen Vollmachten. Aber Herr von Boetticher sagte am
12. Februar, gerade in der Konfektionsindustrie stünden der Anwendung dieses
Paragraphen besondre Schwierigkeiten entgegen. Die Vernehmungen werden
ihn darüber hoffentlich eines bessern belehren. Die Klagen, die laut geworden
sind, betreffen fast nur Mißstände, die auf Nachlässigkeit, Trägheit und Un¬
ordnung beruhen. Kosten verursacht ihre Abstellung so gut wie keine. Aber
es ist eben noch niemals Ernst gemacht worden mit der Anwendung des 12t) ü
auf die Werkstätten. Die hohe Polizei fängt, wie es scheint, allmählich selbst
an, daran zu glauben, daß sie hier vor unüberwindlichen Schwierigkeiten stehe,
die nun einmal in den neuzeitlichen „Verhältnissen" begründet seien, vor einem
„Massenelend," gegen das man nichts thun könne, solange nicht das „kapita¬
listische Wirtschaftssystem" durch großartige, allumfassende Reformen beseitigt
sei. Wir bitten Herrn von Boetticher recht dringend, nur einmal die Probe
machen zu lassen. Wenn die Bürgermeister, die Polizeiverwalter, die Polizci-
leutnants und die Schutzleute unter Leitung und Oberaufsicht der Gewcrbc-
inspektorcn nur einmal ein Jahr lang in der Anwendung des 8 120 a ihre volle
Schuldigkeit thun müßten, so würde das Wunder wirken. Was übrigens
die Räumlichkeiten selbst betrifft, so ist in den Großstädten dank der Barone
die Lage der Werkstätten und Arbeitsstuben gegen die alten Handwerksverhält¬
nisse viel besser geworden, und von Zuständen, wie sie im Osten Londons
vorkommen sollen, wo bis zwanzig russische Juden in einem engen Zimmer
arbeiten und schlafen, ist in den deutschen Großstädten im allgemeinen nichts
zu bemerken.
Wenn wir die strenge Durchführung der Arbeiterschutzbestimmnngen be¬
züglich aller Werkstätten fordern, so müssen wir daran erinnern, daß wir unter
Werkstätte jeden Arbeitsraum (auch wenn er zugleich Wohn-, Schlaf- und
Kochraum ist) verstanden wissen wollen, worin auch nur eine nicht zur Familie
gehörige Hilfsperson mit Gewerbearbeit, also hier mit Konfektionsarbeit, be¬
schäftigt wird, und außerdem noch verlangen, daß auch in dem Falle, daß
nur Familienangehörige beschäftigt werden, dann ein schutzpslichtiger Betrieb
angenommen wird, wenn diese Familienangehörigen als Lohnarbeiter auf Grund
eines Vertragsverhältnisses thätig sind. Die Beschäftigung fremder Hilfspersvnen
ist uns aber so sehr die Hauptsache, daß wir das zweite Verlangen gern zurück¬
stellen, sobald etwa durch seine Erfüllung die ganze Maßregel aufgehalten
werden sollte. Es kommt uns darauf an, den nicht in den gesetzlichen Arbeiter-
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