Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Mißstände in der Aleider- und Wäscheindnstrie

sich die Mühe nimmt, die Aussagen vor der Kommission darauf hin genau
anzusehen, wird sich überzeugen, daß in der Konfektionsindustrie zu solchen
Mißbräuchen den Arbeitgebern und ihren "jungen Leuten" viel weniger Ge¬
legenheit gegeben ist als in Industrien mit vorherrschendem Fabrikbetriebe.
Die Zudringlichkeit der "jungen Leute" mag sehr unverschämt und widerwärtig
sein; aber wenn die Sozialdemokraten die Verhältnisse so darstellen, als ob
die bittere Not und die Sklavenstellung der Konfektionsarbeiterinnen diese den
kapitalistischen Ausbeutern und ihren Gehilfen in die Arme triebe, so ist das
eine ebenso widerwärtige Unwahrheit. Sollte es dahin kommen, daß der ge¬
schlechtliche Verkehr von Arbeitgebern mit Arbeiterinnen unter Strafe gestellt
würde, so würde die Hauptwirkung eine arge Zunahme von Erpressungs¬
versuchen sein. Die Akten über diese Frage sind wohl mit den Vernehmungen
geschlossen.

Herr von Boetticher hat aber dann noch zwei weitere Punkte genannt,
aus die bei den beabsichtigten Maßregeln ein besondres Augenwerk zu richten
sein werde: die Einschränkung der Arbeitszeit und eine bessere Form des
Arbeitsvertrags. Und damit hat er in der That die Richtung angedeutet,
in der viel gebessert werden kann. Diese Andeutungen erschöpfen aber den
Inhalt der dringenden Aufgaben des Staats keineswegs, und die Kommission
wird es hoffentlich für ihre Pflicht halten, sowohl den übertriebnen Beschwerden
und Forderungen auf der einen Seite entgegenzutreten, wie auch auf der andern
Seite den verbündeten Regierungen das, was nötig und möglich ist, recht bald
in vollem Umfange und nachdrücklich vorzuschlagen.

Vor allem müssen die bisher nur für Fabriken geltenden Bestimmungen
über die tägliche Arbeitszeit und die Arbeitspausen der "jugendlichen und
weiblichen Arbeiter" (ez 135 bis 139" der Gewerbeordnung) durch kaiserliche
Verordnung (Z 154 der Gewerbeordnung) auf die Werkstätten und Arbeits¬
stuben der Konfektion ausgedehnt werden. Bis jetzt ist die werktägliche Arbeits¬
dauer für Arbeiterinnen, für junge Personen beider Geschlechter, ja selbst für
Kinder in den Werkstätten ebenso uneingeschränkt wie für erwachsene Arbeiter.
Ebenso wenig sind irgend welche Arbeitspausen in den Werkstätten vorge¬
schrieben. Die Folgen davon sind durch die Vernehmungen klar genug geworden,
zum Teil in überraschender Weise beleuchtet worden. Eine übermäßige Dauer
der Werkstattarbeit ist als ausgesprochner Mißstand eigentlich nur ersichtlich
geworden in handwerksmäßigen Schneiderwerkstätten mit gelernten Gesellen, in
denen neben gelegentlicher Arbeit für eigne Maßkündschaft auch für Konfektions¬
geschäfte gearbeitet wird. Auch in den Werkstätten und Arbeitsstuben der
Konfektionsmeister in Berlin, Stettin, Breslau, Erfurt kommen zwar in den
Perioden dringender Arbeit mißbräuchliche Überstunden reichlich vor, im all¬
gemeinen aber gewinnt man doch den Eindruck, daß hier, obgleich die Frauen¬
arbeit vorherrscht, von der Freiheit in Bezug auf die Arbeitsdauer doch


Die Mißstände in der Aleider- und Wäscheindnstrie

sich die Mühe nimmt, die Aussagen vor der Kommission darauf hin genau
anzusehen, wird sich überzeugen, daß in der Konfektionsindustrie zu solchen
Mißbräuchen den Arbeitgebern und ihren „jungen Leuten" viel weniger Ge¬
legenheit gegeben ist als in Industrien mit vorherrschendem Fabrikbetriebe.
Die Zudringlichkeit der „jungen Leute" mag sehr unverschämt und widerwärtig
sein; aber wenn die Sozialdemokraten die Verhältnisse so darstellen, als ob
die bittere Not und die Sklavenstellung der Konfektionsarbeiterinnen diese den
kapitalistischen Ausbeutern und ihren Gehilfen in die Arme triebe, so ist das
eine ebenso widerwärtige Unwahrheit. Sollte es dahin kommen, daß der ge¬
schlechtliche Verkehr von Arbeitgebern mit Arbeiterinnen unter Strafe gestellt
würde, so würde die Hauptwirkung eine arge Zunahme von Erpressungs¬
versuchen sein. Die Akten über diese Frage sind wohl mit den Vernehmungen
geschlossen.

Herr von Boetticher hat aber dann noch zwei weitere Punkte genannt,
aus die bei den beabsichtigten Maßregeln ein besondres Augenwerk zu richten
sein werde: die Einschränkung der Arbeitszeit und eine bessere Form des
Arbeitsvertrags. Und damit hat er in der That die Richtung angedeutet,
in der viel gebessert werden kann. Diese Andeutungen erschöpfen aber den
Inhalt der dringenden Aufgaben des Staats keineswegs, und die Kommission
wird es hoffentlich für ihre Pflicht halten, sowohl den übertriebnen Beschwerden
und Forderungen auf der einen Seite entgegenzutreten, wie auch auf der andern
Seite den verbündeten Regierungen das, was nötig und möglich ist, recht bald
in vollem Umfange und nachdrücklich vorzuschlagen.

Vor allem müssen die bisher nur für Fabriken geltenden Bestimmungen
über die tägliche Arbeitszeit und die Arbeitspausen der „jugendlichen und
weiblichen Arbeiter" (ez 135 bis 139» der Gewerbeordnung) durch kaiserliche
Verordnung (Z 154 der Gewerbeordnung) auf die Werkstätten und Arbeits¬
stuben der Konfektion ausgedehnt werden. Bis jetzt ist die werktägliche Arbeits¬
dauer für Arbeiterinnen, für junge Personen beider Geschlechter, ja selbst für
Kinder in den Werkstätten ebenso uneingeschränkt wie für erwachsene Arbeiter.
Ebenso wenig sind irgend welche Arbeitspausen in den Werkstätten vorge¬
schrieben. Die Folgen davon sind durch die Vernehmungen klar genug geworden,
zum Teil in überraschender Weise beleuchtet worden. Eine übermäßige Dauer
der Werkstattarbeit ist als ausgesprochner Mißstand eigentlich nur ersichtlich
geworden in handwerksmäßigen Schneiderwerkstätten mit gelernten Gesellen, in
denen neben gelegentlicher Arbeit für eigne Maßkündschaft auch für Konfektions¬
geschäfte gearbeitet wird. Auch in den Werkstätten und Arbeitsstuben der
Konfektionsmeister in Berlin, Stettin, Breslau, Erfurt kommen zwar in den
Perioden dringender Arbeit mißbräuchliche Überstunden reichlich vor, im all¬
gemeinen aber gewinnt man doch den Eindruck, daß hier, obgleich die Frauen¬
arbeit vorherrscht, von der Freiheit in Bezug auf die Arbeitsdauer doch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0456" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224040"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Mißstände in der Aleider- und Wäscheindnstrie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1370" prev="#ID_1369"> sich die Mühe nimmt, die Aussagen vor der Kommission darauf hin genau<lb/>
anzusehen, wird sich überzeugen, daß in der Konfektionsindustrie zu solchen<lb/>
Mißbräuchen den Arbeitgebern und ihren &#x201E;jungen Leuten" viel weniger Ge¬<lb/>
legenheit gegeben ist als in Industrien mit vorherrschendem Fabrikbetriebe.<lb/>
Die Zudringlichkeit der &#x201E;jungen Leute" mag sehr unverschämt und widerwärtig<lb/>
sein; aber wenn die Sozialdemokraten die Verhältnisse so darstellen, als ob<lb/>
die bittere Not und die Sklavenstellung der Konfektionsarbeiterinnen diese den<lb/>
kapitalistischen Ausbeutern und ihren Gehilfen in die Arme triebe, so ist das<lb/>
eine ebenso widerwärtige Unwahrheit. Sollte es dahin kommen, daß der ge¬<lb/>
schlechtliche Verkehr von Arbeitgebern mit Arbeiterinnen unter Strafe gestellt<lb/>
würde, so würde die Hauptwirkung eine arge Zunahme von Erpressungs¬<lb/>
versuchen sein. Die Akten über diese Frage sind wohl mit den Vernehmungen<lb/>
geschlossen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1371"> Herr von Boetticher hat aber dann noch zwei weitere Punkte genannt,<lb/>
aus die bei den beabsichtigten Maßregeln ein besondres Augenwerk zu richten<lb/>
sein werde: die Einschränkung der Arbeitszeit und eine bessere Form des<lb/>
Arbeitsvertrags. Und damit hat er in der That die Richtung angedeutet,<lb/>
in der viel gebessert werden kann. Diese Andeutungen erschöpfen aber den<lb/>
Inhalt der dringenden Aufgaben des Staats keineswegs, und die Kommission<lb/>
wird es hoffentlich für ihre Pflicht halten, sowohl den übertriebnen Beschwerden<lb/>
und Forderungen auf der einen Seite entgegenzutreten, wie auch auf der andern<lb/>
Seite den verbündeten Regierungen das, was nötig und möglich ist, recht bald<lb/>
in vollem Umfange und nachdrücklich vorzuschlagen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1372" next="#ID_1373"> Vor allem müssen die bisher nur für Fabriken geltenden Bestimmungen<lb/>
über die tägliche Arbeitszeit und die Arbeitspausen der &#x201E;jugendlichen und<lb/>
weiblichen Arbeiter" (ez 135 bis 139» der Gewerbeordnung) durch kaiserliche<lb/>
Verordnung (Z 154 der Gewerbeordnung) auf die Werkstätten und Arbeits¬<lb/>
stuben der Konfektion ausgedehnt werden. Bis jetzt ist die werktägliche Arbeits¬<lb/>
dauer für Arbeiterinnen, für junge Personen beider Geschlechter, ja selbst für<lb/>
Kinder in den Werkstätten ebenso uneingeschränkt wie für erwachsene Arbeiter.<lb/>
Ebenso wenig sind irgend welche Arbeitspausen in den Werkstätten vorge¬<lb/>
schrieben. Die Folgen davon sind durch die Vernehmungen klar genug geworden,<lb/>
zum Teil in überraschender Weise beleuchtet worden. Eine übermäßige Dauer<lb/>
der Werkstattarbeit ist als ausgesprochner Mißstand eigentlich nur ersichtlich<lb/>
geworden in handwerksmäßigen Schneiderwerkstätten mit gelernten Gesellen, in<lb/>
denen neben gelegentlicher Arbeit für eigne Maßkündschaft auch für Konfektions¬<lb/>
geschäfte gearbeitet wird. Auch in den Werkstätten und Arbeitsstuben der<lb/>
Konfektionsmeister in Berlin, Stettin, Breslau, Erfurt kommen zwar in den<lb/>
Perioden dringender Arbeit mißbräuchliche Überstunden reichlich vor, im all¬<lb/>
gemeinen aber gewinnt man doch den Eindruck, daß hier, obgleich die Frauen¬<lb/>
arbeit vorherrscht, von der Freiheit in Bezug auf die Arbeitsdauer doch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0456] Die Mißstände in der Aleider- und Wäscheindnstrie sich die Mühe nimmt, die Aussagen vor der Kommission darauf hin genau anzusehen, wird sich überzeugen, daß in der Konfektionsindustrie zu solchen Mißbräuchen den Arbeitgebern und ihren „jungen Leuten" viel weniger Ge¬ legenheit gegeben ist als in Industrien mit vorherrschendem Fabrikbetriebe. Die Zudringlichkeit der „jungen Leute" mag sehr unverschämt und widerwärtig sein; aber wenn die Sozialdemokraten die Verhältnisse so darstellen, als ob die bittere Not und die Sklavenstellung der Konfektionsarbeiterinnen diese den kapitalistischen Ausbeutern und ihren Gehilfen in die Arme triebe, so ist das eine ebenso widerwärtige Unwahrheit. Sollte es dahin kommen, daß der ge¬ schlechtliche Verkehr von Arbeitgebern mit Arbeiterinnen unter Strafe gestellt würde, so würde die Hauptwirkung eine arge Zunahme von Erpressungs¬ versuchen sein. Die Akten über diese Frage sind wohl mit den Vernehmungen geschlossen. Herr von Boetticher hat aber dann noch zwei weitere Punkte genannt, aus die bei den beabsichtigten Maßregeln ein besondres Augenwerk zu richten sein werde: die Einschränkung der Arbeitszeit und eine bessere Form des Arbeitsvertrags. Und damit hat er in der That die Richtung angedeutet, in der viel gebessert werden kann. Diese Andeutungen erschöpfen aber den Inhalt der dringenden Aufgaben des Staats keineswegs, und die Kommission wird es hoffentlich für ihre Pflicht halten, sowohl den übertriebnen Beschwerden und Forderungen auf der einen Seite entgegenzutreten, wie auch auf der andern Seite den verbündeten Regierungen das, was nötig und möglich ist, recht bald in vollem Umfange und nachdrücklich vorzuschlagen. Vor allem müssen die bisher nur für Fabriken geltenden Bestimmungen über die tägliche Arbeitszeit und die Arbeitspausen der „jugendlichen und weiblichen Arbeiter" (ez 135 bis 139» der Gewerbeordnung) durch kaiserliche Verordnung (Z 154 der Gewerbeordnung) auf die Werkstätten und Arbeits¬ stuben der Konfektion ausgedehnt werden. Bis jetzt ist die werktägliche Arbeits¬ dauer für Arbeiterinnen, für junge Personen beider Geschlechter, ja selbst für Kinder in den Werkstätten ebenso uneingeschränkt wie für erwachsene Arbeiter. Ebenso wenig sind irgend welche Arbeitspausen in den Werkstätten vorge¬ schrieben. Die Folgen davon sind durch die Vernehmungen klar genug geworden, zum Teil in überraschender Weise beleuchtet worden. Eine übermäßige Dauer der Werkstattarbeit ist als ausgesprochner Mißstand eigentlich nur ersichtlich geworden in handwerksmäßigen Schneiderwerkstätten mit gelernten Gesellen, in denen neben gelegentlicher Arbeit für eigne Maßkündschaft auch für Konfektions¬ geschäfte gearbeitet wird. Auch in den Werkstätten und Arbeitsstuben der Konfektionsmeister in Berlin, Stettin, Breslau, Erfurt kommen zwar in den Perioden dringender Arbeit mißbräuchliche Überstunden reichlich vor, im all¬ gemeinen aber gewinnt man doch den Eindruck, daß hier, obgleich die Frauen¬ arbeit vorherrscht, von der Freiheit in Bezug auf die Arbeitsdauer doch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/456
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/456>, abgerufen am 08.01.2025.