Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

der Zeit der Eisenbahnen, ist es dem Landvolk auch aus entfernten Gouver¬
nements möglich, an dem Feste teilzunehmen, das ursprünglich nur als eine
Speisung des Moskaner Volks gedacht war; durch Fahrpreisermäßigung, ja
teilweise durch Erlaß des Fahrgeldes machte es die Verwaltung der Eisen¬
bahnen auch Unbemittelten möglich, nach Moskau zu gelangen, um an dem
Tage, der dem Volke gehört, den Zaren, der sich an diesem Tage seinem Volke
zeigen will, zu begrüßen. Man mußte also auf Hunderttausende gefaßt sein,
und man war es auch, denn von den Bechern aus emaillirtem Metall, die
der Kaiser seinen Unterthanen schenken wollte, waren 600 000 Stück (in einer
Wiener Fabrik, wie man sagt) bestellt worden. Rechnete man aber mit
Hunderttausenden, so mußte man erst recht dafür sorgen, daß sich das Volk
nicht selbst überlassen blieb. Man hatte die kluge Erfindung gemacht, die
Volksmasse durch etwa zweihundert schmale Eingänge, durch die nur je ein
Mensch gehen konnte, zwischen den Holzbudeu, in denen die Geschenke des
Kaisers lagen, hindurchzuleiten: beim Eintritt in den Festplatz sollte männiglich
den Becher und ein Tuch mit Eßwaren und Näschereien erhalten. Nun zogen
sich die Buden mit den trichterförmigen Zugängen in weitem Halbrund in das
Feld hinein; wer aber aus der Stadt auf das Chodynkafeld will, geht selbst¬
verständlich auf der Straße nach Petrowskij, und so war vorauszusehen, daß
sich vor den fünfzig bis sechzig Zugängen in der Nähe der Straße die Menge
stauen mußte. Ich sah die ganze Einrichtung ein paar Tage vorher, und
wie ich, so hatten sehr viele ihre Bedenken, ob diese künstliche Zuleitung der
Volksmassen zum Festplatz genügende Sicherheit biete; daß sich irgend ein
kleines Unglück ereignen würde, darauf war man, wie ich vielfach hörte, durch¬
aus gefaßt. Unheilvoll wurde der Graben, der sich gerade vor den fünfzig
bis sechzig Buden an der Petrowskij-Allee hinzog, wie es hieß, ein von den
Moskaner Truppen zu Übungszwecken ausgeworfner Schützengraben.

Schon vor dem Unglück hörte ich mehrfach die Frage, warum man die
Volksmenge nicht verteilt habe? Bei Sotolnili, auf dem Jungfernfeld, so
wurde vorgeschlagen, hätten kleine "Prasdniki" veranstaltet werden sollen,
damit sich nicht alles auf der Chodynka zusammendrängte. Aber was helfen
nachträglich solche Betrachtungen! Das Furchtbare ist geschehen. Etwa drei¬
tausend Menschen haben ihr Leben eingebüßt, und wenn man von Nikolaus
des Zweiten Krönung sprechen wird, wird das Bild dieses Schreckenstags auch
den nachgebornen vor Augen stehen.

Über den unmittelbaren Anlaß zu dem Unglück liefen in Rußland allerlei
abenteuerliche Gerüchte um, und deutsche Zeitungen haben sie ihren leicht¬
gläubigen Lesern eifrig wiedererzählt. Was ich durch Augenzeugen erfahren
habe, ist mir das Wahrscheinlichste. Bis gegen Vs 6 Uhr morgens hatte sich
die Menge ganz ruhig verhalten; freilich stand man in der Nähe der Buden
schon so dichtgedrängt, daß es nicht unmöglich ist, daß bereits um diese Zeit


Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

der Zeit der Eisenbahnen, ist es dem Landvolk auch aus entfernten Gouver¬
nements möglich, an dem Feste teilzunehmen, das ursprünglich nur als eine
Speisung des Moskaner Volks gedacht war; durch Fahrpreisermäßigung, ja
teilweise durch Erlaß des Fahrgeldes machte es die Verwaltung der Eisen¬
bahnen auch Unbemittelten möglich, nach Moskau zu gelangen, um an dem
Tage, der dem Volke gehört, den Zaren, der sich an diesem Tage seinem Volke
zeigen will, zu begrüßen. Man mußte also auf Hunderttausende gefaßt sein,
und man war es auch, denn von den Bechern aus emaillirtem Metall, die
der Kaiser seinen Unterthanen schenken wollte, waren 600 000 Stück (in einer
Wiener Fabrik, wie man sagt) bestellt worden. Rechnete man aber mit
Hunderttausenden, so mußte man erst recht dafür sorgen, daß sich das Volk
nicht selbst überlassen blieb. Man hatte die kluge Erfindung gemacht, die
Volksmasse durch etwa zweihundert schmale Eingänge, durch die nur je ein
Mensch gehen konnte, zwischen den Holzbudeu, in denen die Geschenke des
Kaisers lagen, hindurchzuleiten: beim Eintritt in den Festplatz sollte männiglich
den Becher und ein Tuch mit Eßwaren und Näschereien erhalten. Nun zogen
sich die Buden mit den trichterförmigen Zugängen in weitem Halbrund in das
Feld hinein; wer aber aus der Stadt auf das Chodynkafeld will, geht selbst¬
verständlich auf der Straße nach Petrowskij, und so war vorauszusehen, daß
sich vor den fünfzig bis sechzig Zugängen in der Nähe der Straße die Menge
stauen mußte. Ich sah die ganze Einrichtung ein paar Tage vorher, und
wie ich, so hatten sehr viele ihre Bedenken, ob diese künstliche Zuleitung der
Volksmassen zum Festplatz genügende Sicherheit biete; daß sich irgend ein
kleines Unglück ereignen würde, darauf war man, wie ich vielfach hörte, durch¬
aus gefaßt. Unheilvoll wurde der Graben, der sich gerade vor den fünfzig
bis sechzig Buden an der Petrowskij-Allee hinzog, wie es hieß, ein von den
Moskaner Truppen zu Übungszwecken ausgeworfner Schützengraben.

Schon vor dem Unglück hörte ich mehrfach die Frage, warum man die
Volksmenge nicht verteilt habe? Bei Sotolnili, auf dem Jungfernfeld, so
wurde vorgeschlagen, hätten kleine „Prasdniki" veranstaltet werden sollen,
damit sich nicht alles auf der Chodynka zusammendrängte. Aber was helfen
nachträglich solche Betrachtungen! Das Furchtbare ist geschehen. Etwa drei¬
tausend Menschen haben ihr Leben eingebüßt, und wenn man von Nikolaus
des Zweiten Krönung sprechen wird, wird das Bild dieses Schreckenstags auch
den nachgebornen vor Augen stehen.

Über den unmittelbaren Anlaß zu dem Unglück liefen in Rußland allerlei
abenteuerliche Gerüchte um, und deutsche Zeitungen haben sie ihren leicht¬
gläubigen Lesern eifrig wiedererzählt. Was ich durch Augenzeugen erfahren
habe, ist mir das Wahrscheinlichste. Bis gegen Vs 6 Uhr morgens hatte sich
die Menge ganz ruhig verhalten; freilich stand man in der Nähe der Buden
schon so dichtgedrängt, daß es nicht unmöglich ist, daß bereits um diese Zeit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0044" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223628"/>
            <fw type="header" place="top"> Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_111" prev="#ID_110"> der Zeit der Eisenbahnen, ist es dem Landvolk auch aus entfernten Gouver¬<lb/>
nements möglich, an dem Feste teilzunehmen, das ursprünglich nur als eine<lb/>
Speisung des Moskaner Volks gedacht war; durch Fahrpreisermäßigung, ja<lb/>
teilweise durch Erlaß des Fahrgeldes machte es die Verwaltung der Eisen¬<lb/>
bahnen auch Unbemittelten möglich, nach Moskau zu gelangen, um an dem<lb/>
Tage, der dem Volke gehört, den Zaren, der sich an diesem Tage seinem Volke<lb/>
zeigen will, zu begrüßen. Man mußte also auf Hunderttausende gefaßt sein,<lb/>
und man war es auch, denn von den Bechern aus emaillirtem Metall, die<lb/>
der Kaiser seinen Unterthanen schenken wollte, waren 600 000 Stück (in einer<lb/>
Wiener Fabrik, wie man sagt) bestellt worden. Rechnete man aber mit<lb/>
Hunderttausenden, so mußte man erst recht dafür sorgen, daß sich das Volk<lb/>
nicht selbst überlassen blieb. Man hatte die kluge Erfindung gemacht, die<lb/>
Volksmasse durch etwa zweihundert schmale Eingänge, durch die nur je ein<lb/>
Mensch gehen konnte, zwischen den Holzbudeu, in denen die Geschenke des<lb/>
Kaisers lagen, hindurchzuleiten: beim Eintritt in den Festplatz sollte männiglich<lb/>
den Becher und ein Tuch mit Eßwaren und Näschereien erhalten. Nun zogen<lb/>
sich die Buden mit den trichterförmigen Zugängen in weitem Halbrund in das<lb/>
Feld hinein; wer aber aus der Stadt auf das Chodynkafeld will, geht selbst¬<lb/>
verständlich auf der Straße nach Petrowskij, und so war vorauszusehen, daß<lb/>
sich vor den fünfzig bis sechzig Zugängen in der Nähe der Straße die Menge<lb/>
stauen mußte. Ich sah die ganze Einrichtung ein paar Tage vorher, und<lb/>
wie ich, so hatten sehr viele ihre Bedenken, ob diese künstliche Zuleitung der<lb/>
Volksmassen zum Festplatz genügende Sicherheit biete; daß sich irgend ein<lb/>
kleines Unglück ereignen würde, darauf war man, wie ich vielfach hörte, durch¬<lb/>
aus gefaßt. Unheilvoll wurde der Graben, der sich gerade vor den fünfzig<lb/>
bis sechzig Buden an der Petrowskij-Allee hinzog, wie es hieß, ein von den<lb/>
Moskaner Truppen zu Übungszwecken ausgeworfner Schützengraben.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_112"> Schon vor dem Unglück hörte ich mehrfach die Frage, warum man die<lb/>
Volksmenge nicht verteilt habe? Bei Sotolnili, auf dem Jungfernfeld, so<lb/>
wurde vorgeschlagen, hätten kleine &#x201E;Prasdniki" veranstaltet werden sollen,<lb/>
damit sich nicht alles auf der Chodynka zusammendrängte. Aber was helfen<lb/>
nachträglich solche Betrachtungen! Das Furchtbare ist geschehen. Etwa drei¬<lb/>
tausend Menschen haben ihr Leben eingebüßt, und wenn man von Nikolaus<lb/>
des Zweiten Krönung sprechen wird, wird das Bild dieses Schreckenstags auch<lb/>
den nachgebornen vor Augen stehen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_113" next="#ID_114"> Über den unmittelbaren Anlaß zu dem Unglück liefen in Rußland allerlei<lb/>
abenteuerliche Gerüchte um, und deutsche Zeitungen haben sie ihren leicht¬<lb/>
gläubigen Lesern eifrig wiedererzählt. Was ich durch Augenzeugen erfahren<lb/>
habe, ist mir das Wahrscheinlichste. Bis gegen Vs 6 Uhr morgens hatte sich<lb/>
die Menge ganz ruhig verhalten; freilich stand man in der Nähe der Buden<lb/>
schon so dichtgedrängt, daß es nicht unmöglich ist, daß bereits um diese Zeit</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0044] Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland der Zeit der Eisenbahnen, ist es dem Landvolk auch aus entfernten Gouver¬ nements möglich, an dem Feste teilzunehmen, das ursprünglich nur als eine Speisung des Moskaner Volks gedacht war; durch Fahrpreisermäßigung, ja teilweise durch Erlaß des Fahrgeldes machte es die Verwaltung der Eisen¬ bahnen auch Unbemittelten möglich, nach Moskau zu gelangen, um an dem Tage, der dem Volke gehört, den Zaren, der sich an diesem Tage seinem Volke zeigen will, zu begrüßen. Man mußte also auf Hunderttausende gefaßt sein, und man war es auch, denn von den Bechern aus emaillirtem Metall, die der Kaiser seinen Unterthanen schenken wollte, waren 600 000 Stück (in einer Wiener Fabrik, wie man sagt) bestellt worden. Rechnete man aber mit Hunderttausenden, so mußte man erst recht dafür sorgen, daß sich das Volk nicht selbst überlassen blieb. Man hatte die kluge Erfindung gemacht, die Volksmasse durch etwa zweihundert schmale Eingänge, durch die nur je ein Mensch gehen konnte, zwischen den Holzbudeu, in denen die Geschenke des Kaisers lagen, hindurchzuleiten: beim Eintritt in den Festplatz sollte männiglich den Becher und ein Tuch mit Eßwaren und Näschereien erhalten. Nun zogen sich die Buden mit den trichterförmigen Zugängen in weitem Halbrund in das Feld hinein; wer aber aus der Stadt auf das Chodynkafeld will, geht selbst¬ verständlich auf der Straße nach Petrowskij, und so war vorauszusehen, daß sich vor den fünfzig bis sechzig Zugängen in der Nähe der Straße die Menge stauen mußte. Ich sah die ganze Einrichtung ein paar Tage vorher, und wie ich, so hatten sehr viele ihre Bedenken, ob diese künstliche Zuleitung der Volksmassen zum Festplatz genügende Sicherheit biete; daß sich irgend ein kleines Unglück ereignen würde, darauf war man, wie ich vielfach hörte, durch¬ aus gefaßt. Unheilvoll wurde der Graben, der sich gerade vor den fünfzig bis sechzig Buden an der Petrowskij-Allee hinzog, wie es hieß, ein von den Moskaner Truppen zu Übungszwecken ausgeworfner Schützengraben. Schon vor dem Unglück hörte ich mehrfach die Frage, warum man die Volksmenge nicht verteilt habe? Bei Sotolnili, auf dem Jungfernfeld, so wurde vorgeschlagen, hätten kleine „Prasdniki" veranstaltet werden sollen, damit sich nicht alles auf der Chodynka zusammendrängte. Aber was helfen nachträglich solche Betrachtungen! Das Furchtbare ist geschehen. Etwa drei¬ tausend Menschen haben ihr Leben eingebüßt, und wenn man von Nikolaus des Zweiten Krönung sprechen wird, wird das Bild dieses Schreckenstags auch den nachgebornen vor Augen stehen. Über den unmittelbaren Anlaß zu dem Unglück liefen in Rußland allerlei abenteuerliche Gerüchte um, und deutsche Zeitungen haben sie ihren leicht¬ gläubigen Lesern eifrig wiedererzählt. Was ich durch Augenzeugen erfahren habe, ist mir das Wahrscheinlichste. Bis gegen Vs 6 Uhr morgens hatte sich die Menge ganz ruhig verhalten; freilich stand man in der Nähe der Buden schon so dichtgedrängt, daß es nicht unmöglich ist, daß bereits um diese Zeit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/44
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/44>, abgerufen am 06.01.2025.