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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Erlebtes und Beobachtetes ans Rußland

einzelne schwache Personen erdrückt worden sind. Etwa um V26 wurden
Plötzlich Leute mit Bechern und Tüchern gesehen; sie mußten unrechtmäßig in
den Besitz der Geschenke gekommen sein, vielleicht durch die zum Anstellen
bestimmten "Artelschiks," die um diese Zeit auf dem Platz erschienen sein
sollen: die mögen ihren Verwandten und Freunden voreilig Geschenke zugesteckt
haben. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Volksmassen,
und es begann ein Schieben und Drängen nach vorn. Nun sah man auch
einige Burschen auf die Buden steigen und die Becher uuter die Zunächst¬
stehenden werfen. Da gab es kein Halten mehr. In der Angst, das Ge¬
schenk des Kaisers nicht zu erhalten, in blinder Wut stürmte die Meuge vor¬
wärts, wer in den Graben stürzte, blieb liegen, und über ihn weg trampelte
man weiter, der Graben füllte sich, und über diese lebendige Brücke wälzte sich
der Menschenstrom vorwärts. Hierin liegt das Furchtbare: alle sahen das
Unheil, das sie anrichteten, und trotzdem stürzten sie besinnungslos weiter.
Freilich wurden sie von hinten geschoben, und wer einmal eingekeilt war, konnte
kaum anders als schieben und sich schieben lassen. Aber es kam ja der Augenblick
fürchterlicher Ernüchterung: mit einemmal begann die Menge zurückzustauen, und
es wurde Luft. Für die im Graben liegenden -- zu spät. Und so bleibt es
dabei: das Greulichste an diesem Ereignis hat doch das Volk selbst verschuldet.

Man erzählte, eine Maßregel des Polizeimeisters habe zu dem Unglück
besonders beigetragen: er wies die Fabrikbesitzer an, ihre Arbeiter in geschlossenen
Haufen unter je einem Anführer aus dem Platz erscheinen zu lassen, um so
Ordnung halten zu helfen. Diese Absicht verkehrte sich bei der Ausführung
in das Gegenteil. Weil sich diese Arbeiterhäuser als geschlossene Banden sahen,
glaubten sie es nicht nötig zu haben, mit dem übrigen Volk bis um 10 Uhr
auf die Geschenke zu warten, gerade sie sollen zuerst begonnen haben, die Bretter¬
buden zu stürmen und einzureihen; viele von ihnen sollen betrunken gewesen
sein. Die Nachricht, man habe mit dem Stürmen von Schnapsbuden begonnen,
ist eine Erfindung: die Bretterhäuser mit den Bierfässern lagen auf der entgegen¬
gesetzten Seite der Festwiese, und Schnaps wurde überhaupt nicht verschenkt.

Wlassowskij ist in schwerer Ungnade seines Amtes entsetzt worden. Die
Sühne war notwendig, und die Straft ist gerecht, denn ihm lag es ob, mit
der Polizeimacht rechtzeitig einzugreifen, sobald er erfuhr, wie groß die Menge
war. die schon zur Nachtzeit hinausströmte. Und doch ist er schließlich mehr
das Opfer des furchtbaren Unglücks als der Urheber. Die Schuld trägt die
Thorheit, der Überlieferung zu liebe noch heute in der alten Weise dem Volke
em Fest zu geben, das den veränderten Zeiten nicht mehr entspricht; und die
Schuld trügt das Volk selbst, freilich infolge einer Eigenschaft, für die es nicht
verantwortlich gemacht werden kann: seiner Roheit.

(Fortsetzung folgt)




Erlebtes und Beobachtetes ans Rußland

einzelne schwache Personen erdrückt worden sind. Etwa um V26 wurden
Plötzlich Leute mit Bechern und Tüchern gesehen; sie mußten unrechtmäßig in
den Besitz der Geschenke gekommen sein, vielleicht durch die zum Anstellen
bestimmten „Artelschiks," die um diese Zeit auf dem Platz erschienen sein
sollen: die mögen ihren Verwandten und Freunden voreilig Geschenke zugesteckt
haben. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Volksmassen,
und es begann ein Schieben und Drängen nach vorn. Nun sah man auch
einige Burschen auf die Buden steigen und die Becher uuter die Zunächst¬
stehenden werfen. Da gab es kein Halten mehr. In der Angst, das Ge¬
schenk des Kaisers nicht zu erhalten, in blinder Wut stürmte die Meuge vor¬
wärts, wer in den Graben stürzte, blieb liegen, und über ihn weg trampelte
man weiter, der Graben füllte sich, und über diese lebendige Brücke wälzte sich
der Menschenstrom vorwärts. Hierin liegt das Furchtbare: alle sahen das
Unheil, das sie anrichteten, und trotzdem stürzten sie besinnungslos weiter.
Freilich wurden sie von hinten geschoben, und wer einmal eingekeilt war, konnte
kaum anders als schieben und sich schieben lassen. Aber es kam ja der Augenblick
fürchterlicher Ernüchterung: mit einemmal begann die Menge zurückzustauen, und
es wurde Luft. Für die im Graben liegenden — zu spät. Und so bleibt es
dabei: das Greulichste an diesem Ereignis hat doch das Volk selbst verschuldet.

Man erzählte, eine Maßregel des Polizeimeisters habe zu dem Unglück
besonders beigetragen: er wies die Fabrikbesitzer an, ihre Arbeiter in geschlossenen
Haufen unter je einem Anführer aus dem Platz erscheinen zu lassen, um so
Ordnung halten zu helfen. Diese Absicht verkehrte sich bei der Ausführung
in das Gegenteil. Weil sich diese Arbeiterhäuser als geschlossene Banden sahen,
glaubten sie es nicht nötig zu haben, mit dem übrigen Volk bis um 10 Uhr
auf die Geschenke zu warten, gerade sie sollen zuerst begonnen haben, die Bretter¬
buden zu stürmen und einzureihen; viele von ihnen sollen betrunken gewesen
sein. Die Nachricht, man habe mit dem Stürmen von Schnapsbuden begonnen,
ist eine Erfindung: die Bretterhäuser mit den Bierfässern lagen auf der entgegen¬
gesetzten Seite der Festwiese, und Schnaps wurde überhaupt nicht verschenkt.

Wlassowskij ist in schwerer Ungnade seines Amtes entsetzt worden. Die
Sühne war notwendig, und die Straft ist gerecht, denn ihm lag es ob, mit
der Polizeimacht rechtzeitig einzugreifen, sobald er erfuhr, wie groß die Menge
war. die schon zur Nachtzeit hinausströmte. Und doch ist er schließlich mehr
das Opfer des furchtbaren Unglücks als der Urheber. Die Schuld trägt die
Thorheit, der Überlieferung zu liebe noch heute in der alten Weise dem Volke
em Fest zu geben, das den veränderten Zeiten nicht mehr entspricht; und die
Schuld trügt das Volk selbst, freilich infolge einer Eigenschaft, für die es nicht
verantwortlich gemacht werden kann: seiner Roheit.

(Fortsetzung folgt)




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/45>, abgerufen am 06.01.2025.