Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland hatten harte Arbeit in dieser Festzeit, und mancher ist kaum aus den Kleidern Ein Vorwurf wurde dem Polizeimeister von Anfang an gemacht: überall, Das Volksfest, der "Narodnij Prasdnik" ist auch ein Anachronismus, Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland hatten harte Arbeit in dieser Festzeit, und mancher ist kaum aus den Kleidern Ein Vorwurf wurde dem Polizeimeister von Anfang an gemacht: überall, Das Volksfest, der „Narodnij Prasdnik" ist auch ein Anachronismus, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0043" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223627"/> <fw type="header" place="top"> Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland</fw><lb/> <p xml:id="ID_108" prev="#ID_107"> hatten harte Arbeit in dieser Festzeit, und mancher ist kaum aus den Kleidern<lb/> gekommen. Trotz der Unterstützung durch Kosaken und Militär erwies sich<lb/> die große Zahl der Polizisten als zu klein.</p><lb/> <p xml:id="ID_109"> Ein Vorwurf wurde dem Polizeimeister von Anfang an gemacht: überall,<lb/> wo der Kaiser erscheinen konnte, wimmelte es zur Absperrung der Straßen<lb/> von Polizei; wo ein Gedränge des Volkes zu befürchten gewesen wäre, fehlte<lb/> sie. So an den Jlluminationsabenden; so in der verhängnisvollen Nacht vom<lb/> Freitag zum Sonnabend. Am Freitag Abend (17./29. Mai) fand die Gala¬<lb/> vorstellung im Großen Theater statt; dazu waren ganze Schwärme von Poli¬<lb/> zisten aufgeboten, denn der Kaiser war ja im Theater. Aber während die<lb/> Vorstellung noch im Gange war. wälzte sich bereits draußen auf den Straßen,<lb/> die nach Westen, nach Petrowskij und dem Chodynkafeld führten, eine wahre<lb/> Völkerwanderung. Ich ging um Mitternacht über einen Boulevard, er war<lb/> schwarz von Menschen, die alle hinauszogen zum „Volksfest." Und das ging so<lb/> fort die ganze Nacht hindurch. Schon während der Nacht war der vordere Teil<lb/> des Chodynkafelds, vor dem abgesteckten Festplatz, voll von Menschen. Aber<lb/> keine Polizei, nicht ein Kosak war da. Angeblich sollte bei dem „Volksfest"<lb/> überhaupt möglichst wenig Polizei zur Verwendung kommen, um das Volk<lb/> nicht in seiner „Freiheit" zu stören. Ist diese Angabe richtig, so beweist sie,<lb/> daß die russischen Behörden einen schwachen Begriff von ihrem niedern Volk<lb/> haben. Was alle Welt in Moskau wußte, darauf mußten sich doch auch die<lb/> Behörden besinnen: daß bei der Krönung Alexanders III. der Versuch gemacht<lb/> worden war, vor der festgesetzten Stunde die Buden mit den „Geschenken des<lb/> Kaisers" zu stürmen; damals waren die Kosaken zur Stelle gewesen, hatten<lb/> in die Menge hineingehauen und wohl auch einige Personen gründlich kampf¬<lb/> unfähig gemacht. Ältere Leute besannen sich, daß bei einer frühern Krönung,<lb/> wohl der Alexanders II., ein paar hundert Menschen erdrückt worden waren;<lb/> damals war es freilich noch möglich gewesen, den Zeitungen Schweigen auf¬<lb/> zuerlegen, und fo war das Unglück vertuscht worden. Jedenfalls hatten die<lb/> Behörden Grund zu der größten Vorsicht. Statt solche Vorsicht zu üben,<lb/> war angeordnet worden, daß Polizei und Kosaken erst um 7 Uhr morgens<lb/> auf dem Platze sein sollten, und bei dieser Anordnung blieb es, auch als es<lb/> "u „maßgebender Stelle" bekannt sein mußte, daß sich die Volksmassen schon<lb/> seit dem Abend ununterbrochen zum Chodyukafeld wälzten.</p><lb/> <p xml:id="ID_110" next="#ID_111"> Das Volksfest, der „Narodnij Prasdnik" ist auch ein Anachronismus,<lb/> wie so vieles bei dieser Krönung. In frühern Zeiten fand das Fest auf dem<lb/> Roten Platze am Kreml statt, da handelte es sich nur um ein paar hundert<lb/> Menschen; später wurde der Exerzierplatz der Moskaner Garnison, eben das<lb/> Chodynkafeld, dazu ausgewählt, und das reichte aus, so lange es sich um ein<lb/> paar tausend Menschen handelte. Platz haben ja dort auch Hunderttausende;<lb/> aber organisiren läßt sich für Hunderttausende das Fest dort nicht. Jetzt, in</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0043]
Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland
hatten harte Arbeit in dieser Festzeit, und mancher ist kaum aus den Kleidern
gekommen. Trotz der Unterstützung durch Kosaken und Militär erwies sich
die große Zahl der Polizisten als zu klein.
Ein Vorwurf wurde dem Polizeimeister von Anfang an gemacht: überall,
wo der Kaiser erscheinen konnte, wimmelte es zur Absperrung der Straßen
von Polizei; wo ein Gedränge des Volkes zu befürchten gewesen wäre, fehlte
sie. So an den Jlluminationsabenden; so in der verhängnisvollen Nacht vom
Freitag zum Sonnabend. Am Freitag Abend (17./29. Mai) fand die Gala¬
vorstellung im Großen Theater statt; dazu waren ganze Schwärme von Poli¬
zisten aufgeboten, denn der Kaiser war ja im Theater. Aber während die
Vorstellung noch im Gange war. wälzte sich bereits draußen auf den Straßen,
die nach Westen, nach Petrowskij und dem Chodynkafeld führten, eine wahre
Völkerwanderung. Ich ging um Mitternacht über einen Boulevard, er war
schwarz von Menschen, die alle hinauszogen zum „Volksfest." Und das ging so
fort die ganze Nacht hindurch. Schon während der Nacht war der vordere Teil
des Chodynkafelds, vor dem abgesteckten Festplatz, voll von Menschen. Aber
keine Polizei, nicht ein Kosak war da. Angeblich sollte bei dem „Volksfest"
überhaupt möglichst wenig Polizei zur Verwendung kommen, um das Volk
nicht in seiner „Freiheit" zu stören. Ist diese Angabe richtig, so beweist sie,
daß die russischen Behörden einen schwachen Begriff von ihrem niedern Volk
haben. Was alle Welt in Moskau wußte, darauf mußten sich doch auch die
Behörden besinnen: daß bei der Krönung Alexanders III. der Versuch gemacht
worden war, vor der festgesetzten Stunde die Buden mit den „Geschenken des
Kaisers" zu stürmen; damals waren die Kosaken zur Stelle gewesen, hatten
in die Menge hineingehauen und wohl auch einige Personen gründlich kampf¬
unfähig gemacht. Ältere Leute besannen sich, daß bei einer frühern Krönung,
wohl der Alexanders II., ein paar hundert Menschen erdrückt worden waren;
damals war es freilich noch möglich gewesen, den Zeitungen Schweigen auf¬
zuerlegen, und fo war das Unglück vertuscht worden. Jedenfalls hatten die
Behörden Grund zu der größten Vorsicht. Statt solche Vorsicht zu üben,
war angeordnet worden, daß Polizei und Kosaken erst um 7 Uhr morgens
auf dem Platze sein sollten, und bei dieser Anordnung blieb es, auch als es
"u „maßgebender Stelle" bekannt sein mußte, daß sich die Volksmassen schon
seit dem Abend ununterbrochen zum Chodyukafeld wälzten.
Das Volksfest, der „Narodnij Prasdnik" ist auch ein Anachronismus,
wie so vieles bei dieser Krönung. In frühern Zeiten fand das Fest auf dem
Roten Platze am Kreml statt, da handelte es sich nur um ein paar hundert
Menschen; später wurde der Exerzierplatz der Moskaner Garnison, eben das
Chodynkafeld, dazu ausgewählt, und das reichte aus, so lange es sich um ein
paar tausend Menschen handelte. Platz haben ja dort auch Hunderttausende;
aber organisiren läßt sich für Hunderttausende das Fest dort nicht. Jetzt, in
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