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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Die Reform unsers Zeichenunterrichts

Die Examenordnung war auf alles andre, nur nicht auf die Kunst zugespitzt,
und ich täusche mich wohl nicht, wenn ich annehme, daß es in Preußen auch
beim Zeichenlehrerexamen nicht viel anders ist. Die Kandidaten lernen sehr
viel Ornamentik, Perspektive, Kunstgeschichte und Pädagogik, aber leider die
Hauptsache nicht, nämlich die Kunst. Ein einigermaßen begabter Schüler
lernt aber selbst von einem schlechten Pädagogen, dessen künstlerische Fähigkeiten
er bewundert, immer noch mehr als von einem pädagogisch geschulten Lehrer,
der nicht zeichnen kann und sich einbildet, daß Kunst aus einem Hinundher¬
schieben von Linien und Linienkombinationen in der Fläche bestehe. Gewiß
gehört zum Künstler neben dem künstlerischen Gefühl, das auch bei ihm natür¬
lich die Hauptsache ist, ein gutes Stück verstandesmäßiger Arbeit. Aber beim
Kinde soll vor allem die künstlerische Jllusivnsfähigkeit entwickelt werden, das
Technische und Konstruktive spielt hier erst die zweite Rolle.

In der That ist auch der Zeichenunterricht in den großen Zeiten der
Kunst niemals in dieser Weise erteilt worden, selbst nicht der, den die eigent¬
lichen Künstler genossen. Dürer verlangt von dem jungen Künstler zwar
Kenntnis der Geometrie, besonders der darstellenden Geometrie, aber durchaus
kein jahrelanges Zeichnen geometrischer Figuren. Die italienischen und deutschen
Malerknaben des sechzehnten Jahrhunderts übten sich zuerst nach Zeichnungen
älterer Meister, und wenn sie eine "freie Hand" erlangt hatten, nach der Natur.
Erst Gvrard de Lcnresse, der Meister des Gott sei Dank jetzt überwundnen
theatralischen Klassizismus, fängt seine Unterweisung mit geometrischen
Figuren an. Wie diese dann durch Pestcilozzi in die Pädagogik Eingang fanden,
freilich in ganz andrer Weise, als bei den heutigen Methodikern, das habe ich
in meiner "Künstlerischen Erziehung" genauer ausgeführt.

Daß die obern Schulbehörden in absehbarer Zeit mit der Reform des
Zeichenunterrichts vorangehen werden, ist durchaus nicht zu erwarten. Be¬
hörden können überhaupt nicht aufs Ungewisse hin experimentiren, sondern
nur ans Grund von Vorschlägen aus den unmittelbar beteiligten Kreisen langsam
und allmählich umgestalten. Deshalb müssen sich aber auch diese beteiligten
Kreise, d. h. die Zeichenlehrer, selbst rühren. Und sie dürfen nicht jedem
Reformvorschlag den Einwand entgegenhalten: Was ihr wollt, ist unter den
gegenwärtigen Verhältnissen unerreichbar. Denn man reformirt nicht auf Grund
der gegebnen Verhältnisse, sondern mit der Absicht, diese zu ändern. Daß der
Zeichenunterricht mit den jetzigen Zeichenlehrern, in den jetzigen überfüllten
Klassen und mit der geringen Zeit, die dafür zur Verfügung steht, nicht
in vollkommen künstlerischer Weise betrieben werden kann, weiß ich sehr wohl.
Deshalb müssen aber diese Dinge eben geändert werden. Und man thut
den obern Schulbehörden durchaus keinen Gefallen damit, wenn man das Ziel
mit Rücksicht auf etwaige Wünsche, die man da oben vermutet, von vorn¬
herein zu niedrig steckt. Der normale Schulmann versteht eben von diesen


Die Reform unsers Zeichenunterrichts

Die Examenordnung war auf alles andre, nur nicht auf die Kunst zugespitzt,
und ich täusche mich wohl nicht, wenn ich annehme, daß es in Preußen auch
beim Zeichenlehrerexamen nicht viel anders ist. Die Kandidaten lernen sehr
viel Ornamentik, Perspektive, Kunstgeschichte und Pädagogik, aber leider die
Hauptsache nicht, nämlich die Kunst. Ein einigermaßen begabter Schüler
lernt aber selbst von einem schlechten Pädagogen, dessen künstlerische Fähigkeiten
er bewundert, immer noch mehr als von einem pädagogisch geschulten Lehrer,
der nicht zeichnen kann und sich einbildet, daß Kunst aus einem Hinundher¬
schieben von Linien und Linienkombinationen in der Fläche bestehe. Gewiß
gehört zum Künstler neben dem künstlerischen Gefühl, das auch bei ihm natür¬
lich die Hauptsache ist, ein gutes Stück verstandesmäßiger Arbeit. Aber beim
Kinde soll vor allem die künstlerische Jllusivnsfähigkeit entwickelt werden, das
Technische und Konstruktive spielt hier erst die zweite Rolle.

In der That ist auch der Zeichenunterricht in den großen Zeiten der
Kunst niemals in dieser Weise erteilt worden, selbst nicht der, den die eigent¬
lichen Künstler genossen. Dürer verlangt von dem jungen Künstler zwar
Kenntnis der Geometrie, besonders der darstellenden Geometrie, aber durchaus
kein jahrelanges Zeichnen geometrischer Figuren. Die italienischen und deutschen
Malerknaben des sechzehnten Jahrhunderts übten sich zuerst nach Zeichnungen
älterer Meister, und wenn sie eine „freie Hand" erlangt hatten, nach der Natur.
Erst Gvrard de Lcnresse, der Meister des Gott sei Dank jetzt überwundnen
theatralischen Klassizismus, fängt seine Unterweisung mit geometrischen
Figuren an. Wie diese dann durch Pestcilozzi in die Pädagogik Eingang fanden,
freilich in ganz andrer Weise, als bei den heutigen Methodikern, das habe ich
in meiner „Künstlerischen Erziehung" genauer ausgeführt.

Daß die obern Schulbehörden in absehbarer Zeit mit der Reform des
Zeichenunterrichts vorangehen werden, ist durchaus nicht zu erwarten. Be¬
hörden können überhaupt nicht aufs Ungewisse hin experimentiren, sondern
nur ans Grund von Vorschlägen aus den unmittelbar beteiligten Kreisen langsam
und allmählich umgestalten. Deshalb müssen sich aber auch diese beteiligten
Kreise, d. h. die Zeichenlehrer, selbst rühren. Und sie dürfen nicht jedem
Reformvorschlag den Einwand entgegenhalten: Was ihr wollt, ist unter den
gegenwärtigen Verhältnissen unerreichbar. Denn man reformirt nicht auf Grund
der gegebnen Verhältnisse, sondern mit der Absicht, diese zu ändern. Daß der
Zeichenunterricht mit den jetzigen Zeichenlehrern, in den jetzigen überfüllten
Klassen und mit der geringen Zeit, die dafür zur Verfügung steht, nicht
in vollkommen künstlerischer Weise betrieben werden kann, weiß ich sehr wohl.
Deshalb müssen aber diese Dinge eben geändert werden. Und man thut
den obern Schulbehörden durchaus keinen Gefallen damit, wenn man das Ziel
mit Rücksicht auf etwaige Wünsche, die man da oben vermutet, von vorn¬
herein zu niedrig steckt. Der normale Schulmann versteht eben von diesen


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[0434] Die Reform unsers Zeichenunterrichts Die Examenordnung war auf alles andre, nur nicht auf die Kunst zugespitzt, und ich täusche mich wohl nicht, wenn ich annehme, daß es in Preußen auch beim Zeichenlehrerexamen nicht viel anders ist. Die Kandidaten lernen sehr viel Ornamentik, Perspektive, Kunstgeschichte und Pädagogik, aber leider die Hauptsache nicht, nämlich die Kunst. Ein einigermaßen begabter Schüler lernt aber selbst von einem schlechten Pädagogen, dessen künstlerische Fähigkeiten er bewundert, immer noch mehr als von einem pädagogisch geschulten Lehrer, der nicht zeichnen kann und sich einbildet, daß Kunst aus einem Hinundher¬ schieben von Linien und Linienkombinationen in der Fläche bestehe. Gewiß gehört zum Künstler neben dem künstlerischen Gefühl, das auch bei ihm natür¬ lich die Hauptsache ist, ein gutes Stück verstandesmäßiger Arbeit. Aber beim Kinde soll vor allem die künstlerische Jllusivnsfähigkeit entwickelt werden, das Technische und Konstruktive spielt hier erst die zweite Rolle. In der That ist auch der Zeichenunterricht in den großen Zeiten der Kunst niemals in dieser Weise erteilt worden, selbst nicht der, den die eigent¬ lichen Künstler genossen. Dürer verlangt von dem jungen Künstler zwar Kenntnis der Geometrie, besonders der darstellenden Geometrie, aber durchaus kein jahrelanges Zeichnen geometrischer Figuren. Die italienischen und deutschen Malerknaben des sechzehnten Jahrhunderts übten sich zuerst nach Zeichnungen älterer Meister, und wenn sie eine „freie Hand" erlangt hatten, nach der Natur. Erst Gvrard de Lcnresse, der Meister des Gott sei Dank jetzt überwundnen theatralischen Klassizismus, fängt seine Unterweisung mit geometrischen Figuren an. Wie diese dann durch Pestcilozzi in die Pädagogik Eingang fanden, freilich in ganz andrer Weise, als bei den heutigen Methodikern, das habe ich in meiner „Künstlerischen Erziehung" genauer ausgeführt. Daß die obern Schulbehörden in absehbarer Zeit mit der Reform des Zeichenunterrichts vorangehen werden, ist durchaus nicht zu erwarten. Be¬ hörden können überhaupt nicht aufs Ungewisse hin experimentiren, sondern nur ans Grund von Vorschlägen aus den unmittelbar beteiligten Kreisen langsam und allmählich umgestalten. Deshalb müssen sich aber auch diese beteiligten Kreise, d. h. die Zeichenlehrer, selbst rühren. Und sie dürfen nicht jedem Reformvorschlag den Einwand entgegenhalten: Was ihr wollt, ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen unerreichbar. Denn man reformirt nicht auf Grund der gegebnen Verhältnisse, sondern mit der Absicht, diese zu ändern. Daß der Zeichenunterricht mit den jetzigen Zeichenlehrern, in den jetzigen überfüllten Klassen und mit der geringen Zeit, die dafür zur Verfügung steht, nicht in vollkommen künstlerischer Weise betrieben werden kann, weiß ich sehr wohl. Deshalb müssen aber diese Dinge eben geändert werden. Und man thut den obern Schulbehörden durchaus keinen Gefallen damit, wenn man das Ziel mit Rücksicht auf etwaige Wünsche, die man da oben vermutet, von vorn¬ herein zu niedrig steckt. Der normale Schulmann versteht eben von diesen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/434>, abgerufen am 08.01.2025.