Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Die Reform unsers Zeichenunterrichts entfremdete man den Zeichenlehrerstand durch eine ganz verkehrte Ausbildung Es ist mir schmerzlich, diese Dinge hier wieder berühren zu müssen, denn Bei der Zeichenlehrerausbildung müßten die Regierungen vor allen Dingen Grenzboten IV 1896 S4
Die Reform unsers Zeichenunterrichts entfremdete man den Zeichenlehrerstand durch eine ganz verkehrte Ausbildung Es ist mir schmerzlich, diese Dinge hier wieder berühren zu müssen, denn Bei der Zeichenlehrerausbildung müßten die Regierungen vor allen Dingen Grenzboten IV 1896 S4
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0433" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224017"/> <fw type="header" place="top"> Die Reform unsers Zeichenunterrichts</fw><lb/> <p xml:id="ID_1299" prev="#ID_1298"> entfremdete man den Zeichenlehrerstand durch eine ganz verkehrte Ausbildung<lb/> immer mehr den höhern künstlerischen Interessen. Während früher der Künstler<lb/> den Zeichenunterricht erteilt hatte, wobei freilich mancher pädagogische Mißgriff<lb/> mit untergelaufen war, so gab ihn jetzt der Schulmeister, womit man aus dem<lb/> Regen in die Traufe kam. Die Ausbildung zum Zeichenlehrer wurde zu einem<lb/> Teil des seminaristischen Unterrichts gemacht. Der unglückliche Seminarist mußte<lb/> außer allem andern, was er seinem armen Kopf einzupauken hatte, auch noch<lb/> „Kunst lernen." In einem mehrwöchigen Kursus an einem Schullehrerseminar,<lb/> bestenfalls in einem ein- oder zweijährigen Kursus am Zeichenlehrerseminar<lb/> in Berlin, wurde er zum Zeichenlehrer ausgebildet. Man glaubte wirklich, daß<lb/> das genüge, um Schüler höherer Klassen in die Kunst einzuführen. Daraus<lb/> ist nun freilich den Regierungen kein Vorwurf zu machen, denn die hielten sich<lb/> natürlich an das, was ihnen die berühmtesten „Zeichenpädagogen" vorredeten.<lb/> Nach der Auffassung dieser Herren war ja der Zeichenunterricht eine verstandes¬<lb/> mäßige Unterweisung im freihändigen Konstruiren geometrischer Figuren. Das<lb/> konnte aber, sagte man sich, ein Volksschullehrer ebenso gut lernen wie ein<lb/> Künstler. Und siehe da, aus unsern Vvlksschullehrerseminaren gingen eine<lb/> Menge „Künstler" hervor, die nun auf unsre Gymnasiasten und höhern<lb/> Töchter losgelassen wurden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1300"> Es ist mir schmerzlich, diese Dinge hier wieder berühren zu müssen, denn<lb/> ich weiß, daß sie böses Blut machen werden. Ich erkläre deshalb ausdrücklich,<lb/> daß die Zeichenlehrer selbst an diesen Verhältnissen nicht schuld sind, daß sie<lb/> vielmehr den besten Willen haben, die Aufgabe, die man ihnen nun einmal<lb/> gestellt hat, zu erfüllen. Der Fehler liegt eben in dem ganzen System, und<lb/> die eigentliche Schuld dafür trifft die ältern Methodiker, die durch ihre<lb/> Zeichenschulen und Lehrgänge den Schulbehörden einen ganz falschen Begriff<lb/> vom Wesen des Zeichenunterrichts beigebracht haben. Die seminaristischen<lb/> Zeichenlehrer sind daran nur insofern Schuld, als sie deren Lehren gedanken¬<lb/> los nachbeten und immer weiter auszubilden suchen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1301" next="#ID_1302"> Bei der Zeichenlehrerausbildung müßten die Regierungen vor allen Dingen<lb/> einsetzen, wenn sie etwas thun wollten, denn ohne deren Reorganisation ist<lb/> jeder Versuch einer Reform auf diesem Gebiete aussichtslos. Zeichnen ist eine<lb/> Kunst, und Kunst kann nur von einem Künstler gelehrt werden. Ist dieser<lb/> Künstler ein schlechter Pädagog, so ist das freilich zu bedauern. Aber es ist<lb/> innrer noch besser, als wenn den Zeichenunterricht ein guter Pädagog erteilt,<lb/> der nicht zeichnen kann. Ich habe selbst mehrere Jahre in einer staatlichen<lb/> Kommission für die Prüfung von Zeichenlehrerinnen gesessen und kann nur<lb/> ^gen, daß die Kandidatinnen, die wir zu prüfen hatten, in vielen Dingen<lb/> ^ z- B. auch in Kunstgeschichte — recht gut beschlagen waren, daß sie aber<lb/> leider fast alle — nicht zeichnen konnten. Nach der bestehenden Organisation<lb/> gab es auch keine Gelegenheit für sie, wirklich künstlerisch zeichnen zu lernen.</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1896 S4</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0433]
Die Reform unsers Zeichenunterrichts
entfremdete man den Zeichenlehrerstand durch eine ganz verkehrte Ausbildung
immer mehr den höhern künstlerischen Interessen. Während früher der Künstler
den Zeichenunterricht erteilt hatte, wobei freilich mancher pädagogische Mißgriff
mit untergelaufen war, so gab ihn jetzt der Schulmeister, womit man aus dem
Regen in die Traufe kam. Die Ausbildung zum Zeichenlehrer wurde zu einem
Teil des seminaristischen Unterrichts gemacht. Der unglückliche Seminarist mußte
außer allem andern, was er seinem armen Kopf einzupauken hatte, auch noch
„Kunst lernen." In einem mehrwöchigen Kursus an einem Schullehrerseminar,
bestenfalls in einem ein- oder zweijährigen Kursus am Zeichenlehrerseminar
in Berlin, wurde er zum Zeichenlehrer ausgebildet. Man glaubte wirklich, daß
das genüge, um Schüler höherer Klassen in die Kunst einzuführen. Daraus
ist nun freilich den Regierungen kein Vorwurf zu machen, denn die hielten sich
natürlich an das, was ihnen die berühmtesten „Zeichenpädagogen" vorredeten.
Nach der Auffassung dieser Herren war ja der Zeichenunterricht eine verstandes¬
mäßige Unterweisung im freihändigen Konstruiren geometrischer Figuren. Das
konnte aber, sagte man sich, ein Volksschullehrer ebenso gut lernen wie ein
Künstler. Und siehe da, aus unsern Vvlksschullehrerseminaren gingen eine
Menge „Künstler" hervor, die nun auf unsre Gymnasiasten und höhern
Töchter losgelassen wurden.
Es ist mir schmerzlich, diese Dinge hier wieder berühren zu müssen, denn
ich weiß, daß sie böses Blut machen werden. Ich erkläre deshalb ausdrücklich,
daß die Zeichenlehrer selbst an diesen Verhältnissen nicht schuld sind, daß sie
vielmehr den besten Willen haben, die Aufgabe, die man ihnen nun einmal
gestellt hat, zu erfüllen. Der Fehler liegt eben in dem ganzen System, und
die eigentliche Schuld dafür trifft die ältern Methodiker, die durch ihre
Zeichenschulen und Lehrgänge den Schulbehörden einen ganz falschen Begriff
vom Wesen des Zeichenunterrichts beigebracht haben. Die seminaristischen
Zeichenlehrer sind daran nur insofern Schuld, als sie deren Lehren gedanken¬
los nachbeten und immer weiter auszubilden suchen.
Bei der Zeichenlehrerausbildung müßten die Regierungen vor allen Dingen
einsetzen, wenn sie etwas thun wollten, denn ohne deren Reorganisation ist
jeder Versuch einer Reform auf diesem Gebiete aussichtslos. Zeichnen ist eine
Kunst, und Kunst kann nur von einem Künstler gelehrt werden. Ist dieser
Künstler ein schlechter Pädagog, so ist das freilich zu bedauern. Aber es ist
innrer noch besser, als wenn den Zeichenunterricht ein guter Pädagog erteilt,
der nicht zeichnen kann. Ich habe selbst mehrere Jahre in einer staatlichen
Kommission für die Prüfung von Zeichenlehrerinnen gesessen und kann nur
^gen, daß die Kandidatinnen, die wir zu prüfen hatten, in vielen Dingen
^ z- B. auch in Kunstgeschichte — recht gut beschlagen waren, daß sie aber
leider fast alle — nicht zeichnen konnten. Nach der bestehenden Organisation
gab es auch keine Gelegenheit für sie, wirklich künstlerisch zeichnen zu lernen.
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