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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Die Reform unsers Zeichenunterrichts

Zeichnens aus dem natürlichen Blatt und der natürlichen Blume in der
Praxis durchaus bewährt hat. Das Kind lernt dabei die typische Form aus
der Einzelform ableiten, während im andern Falle die Einzelbeobachtung durch
die vorherige EinPrägung der typischen Form getrübt und gefälscht wird.

Und ebenso ist es mit dem Körperzeichnen, das nicht mit stereometrischen
Modellen und Drahtmodellen begonnen werden soll, sondern mit plastischen
Gegenständen des gewöhnlichen Lebens, die man nur an der Hand regelmäßiger
Körper perspektivisch erläutert. Auch diese Methode ist, z. B. von Matthaei,
längst praktisch durchgeführt worden, und es ist eine einfache Fälschung der
Thatsachen, wenn unsre Methodiker behaupten, der umgekehrte Weg habe die
größern Erfolge aufzuweisen.

Als das Gemeinsame aller dieser Reformen können wir die Losung be¬
zeichnen: Nicht von der Kunst zur Natur, sondern von der Natur zur Kunst!
Kein verknöchertes Schema und keine Zurückführung auf verstandesmäßige
Formeln, sondern lebendige Einführung in die Natur und Ausbildung der
künstlerischen Anschauung, der ästhetischen Jllusionsfähigkeit! Der Zeichen¬
unterricht muß wieder auf die Grundlage der Naturnachahmung gestellt werden,
wenn er unserm künstlerischen Leben zu gute kommen und sich organisch in
den Jugendunterricht eingliedern soll.

Man fragt sich erstaunt: Wie hat denn das jemals verkannt werden
können? Wie ist es möglich gewesen, daß in einer Zeit der realistischen Kunst-
entwicklung die Natur so gänzlich aus dem Zeichenunterricht hinausgedrängt
worden ist? Es giebt dafür verschiedne Ursachen, von denen ich die beiden
wichtigsten hier nennen will.

Erstens ist diese ganze neue Zeichenmethode unter dem Einfluß der kunst¬
gewerblichen Bewegung der siebziger Jahre entstanden und hat dadurch einen voll¬
kommen kunstgewerblichen Charakter angenommen. Damals, als die Kunstgewerbe-
schnlen und Kunstgewerbemuseen gegründet wurden, galt eben der historische
Stil, das Ornament vergangner Zeiten als das Allheilmittel sür unsre Kunst.
In den Kunstgewerbeschulen wurden natürlich vor allem diese alten Stilarten
gelehrt, und da die Reformatoren des kunstgewerblichen Unterrichts gleichzeitig
auch die Reformatoren des Zeichenunterrichts waren, so wurde das geometrisch-
ornamentale Zeichnen alsbald auch auf die Volks- und Fortbildungsschulen
übertragen. Und von diesen fand es dann seinen Weg auf die Gymnasien
und höhern Mädchenschulen, zumal da man die seminaristisch gebildeten Zeichen¬
lehrer auch an ihnen zuließ. Man bedachte dabei nicht, daß die Unterrichts¬
ziele dieser Anstalten ganz von einander verschieden sind, daß ein künftiger
Handwerker und Kunsthandwerker freilich vor allen Dingen lernen muß, geo¬
metrische Figuren und Ornamente freihändig zu zeichnen, daß aber das Lehrziel
der Gymnasien und Mädchenschulen ein ganz andres ist.

Zweitens aber -- und das hängt unmittelbar mit dem ersten zusammen ^-


Die Reform unsers Zeichenunterrichts

Zeichnens aus dem natürlichen Blatt und der natürlichen Blume in der
Praxis durchaus bewährt hat. Das Kind lernt dabei die typische Form aus
der Einzelform ableiten, während im andern Falle die Einzelbeobachtung durch
die vorherige EinPrägung der typischen Form getrübt und gefälscht wird.

Und ebenso ist es mit dem Körperzeichnen, das nicht mit stereometrischen
Modellen und Drahtmodellen begonnen werden soll, sondern mit plastischen
Gegenständen des gewöhnlichen Lebens, die man nur an der Hand regelmäßiger
Körper perspektivisch erläutert. Auch diese Methode ist, z. B. von Matthaei,
längst praktisch durchgeführt worden, und es ist eine einfache Fälschung der
Thatsachen, wenn unsre Methodiker behaupten, der umgekehrte Weg habe die
größern Erfolge aufzuweisen.

Als das Gemeinsame aller dieser Reformen können wir die Losung be¬
zeichnen: Nicht von der Kunst zur Natur, sondern von der Natur zur Kunst!
Kein verknöchertes Schema und keine Zurückführung auf verstandesmäßige
Formeln, sondern lebendige Einführung in die Natur und Ausbildung der
künstlerischen Anschauung, der ästhetischen Jllusionsfähigkeit! Der Zeichen¬
unterricht muß wieder auf die Grundlage der Naturnachahmung gestellt werden,
wenn er unserm künstlerischen Leben zu gute kommen und sich organisch in
den Jugendunterricht eingliedern soll.

Man fragt sich erstaunt: Wie hat denn das jemals verkannt werden
können? Wie ist es möglich gewesen, daß in einer Zeit der realistischen Kunst-
entwicklung die Natur so gänzlich aus dem Zeichenunterricht hinausgedrängt
worden ist? Es giebt dafür verschiedne Ursachen, von denen ich die beiden
wichtigsten hier nennen will.

Erstens ist diese ganze neue Zeichenmethode unter dem Einfluß der kunst¬
gewerblichen Bewegung der siebziger Jahre entstanden und hat dadurch einen voll¬
kommen kunstgewerblichen Charakter angenommen. Damals, als die Kunstgewerbe-
schnlen und Kunstgewerbemuseen gegründet wurden, galt eben der historische
Stil, das Ornament vergangner Zeiten als das Allheilmittel sür unsre Kunst.
In den Kunstgewerbeschulen wurden natürlich vor allem diese alten Stilarten
gelehrt, und da die Reformatoren des kunstgewerblichen Unterrichts gleichzeitig
auch die Reformatoren des Zeichenunterrichts waren, so wurde das geometrisch-
ornamentale Zeichnen alsbald auch auf die Volks- und Fortbildungsschulen
übertragen. Und von diesen fand es dann seinen Weg auf die Gymnasien
und höhern Mädchenschulen, zumal da man die seminaristisch gebildeten Zeichen¬
lehrer auch an ihnen zuließ. Man bedachte dabei nicht, daß die Unterrichts¬
ziele dieser Anstalten ganz von einander verschieden sind, daß ein künftiger
Handwerker und Kunsthandwerker freilich vor allen Dingen lernen muß, geo¬
metrische Figuren und Ornamente freihändig zu zeichnen, daß aber das Lehrziel
der Gymnasien und Mädchenschulen ein ganz andres ist.

Zweitens aber — und das hängt unmittelbar mit dem ersten zusammen ^-


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[0432] Die Reform unsers Zeichenunterrichts Zeichnens aus dem natürlichen Blatt und der natürlichen Blume in der Praxis durchaus bewährt hat. Das Kind lernt dabei die typische Form aus der Einzelform ableiten, während im andern Falle die Einzelbeobachtung durch die vorherige EinPrägung der typischen Form getrübt und gefälscht wird. Und ebenso ist es mit dem Körperzeichnen, das nicht mit stereometrischen Modellen und Drahtmodellen begonnen werden soll, sondern mit plastischen Gegenständen des gewöhnlichen Lebens, die man nur an der Hand regelmäßiger Körper perspektivisch erläutert. Auch diese Methode ist, z. B. von Matthaei, längst praktisch durchgeführt worden, und es ist eine einfache Fälschung der Thatsachen, wenn unsre Methodiker behaupten, der umgekehrte Weg habe die größern Erfolge aufzuweisen. Als das Gemeinsame aller dieser Reformen können wir die Losung be¬ zeichnen: Nicht von der Kunst zur Natur, sondern von der Natur zur Kunst! Kein verknöchertes Schema und keine Zurückführung auf verstandesmäßige Formeln, sondern lebendige Einführung in die Natur und Ausbildung der künstlerischen Anschauung, der ästhetischen Jllusionsfähigkeit! Der Zeichen¬ unterricht muß wieder auf die Grundlage der Naturnachahmung gestellt werden, wenn er unserm künstlerischen Leben zu gute kommen und sich organisch in den Jugendunterricht eingliedern soll. Man fragt sich erstaunt: Wie hat denn das jemals verkannt werden können? Wie ist es möglich gewesen, daß in einer Zeit der realistischen Kunst- entwicklung die Natur so gänzlich aus dem Zeichenunterricht hinausgedrängt worden ist? Es giebt dafür verschiedne Ursachen, von denen ich die beiden wichtigsten hier nennen will. Erstens ist diese ganze neue Zeichenmethode unter dem Einfluß der kunst¬ gewerblichen Bewegung der siebziger Jahre entstanden und hat dadurch einen voll¬ kommen kunstgewerblichen Charakter angenommen. Damals, als die Kunstgewerbe- schnlen und Kunstgewerbemuseen gegründet wurden, galt eben der historische Stil, das Ornament vergangner Zeiten als das Allheilmittel sür unsre Kunst. In den Kunstgewerbeschulen wurden natürlich vor allem diese alten Stilarten gelehrt, und da die Reformatoren des kunstgewerblichen Unterrichts gleichzeitig auch die Reformatoren des Zeichenunterrichts waren, so wurde das geometrisch- ornamentale Zeichnen alsbald auch auf die Volks- und Fortbildungsschulen übertragen. Und von diesen fand es dann seinen Weg auf die Gymnasien und höhern Mädchenschulen, zumal da man die seminaristisch gebildeten Zeichen¬ lehrer auch an ihnen zuließ. Man bedachte dabei nicht, daß die Unterrichts¬ ziele dieser Anstalten ganz von einander verschieden sind, daß ein künftiger Handwerker und Kunsthandwerker freilich vor allen Dingen lernen muß, geo¬ metrische Figuren und Ornamente freihändig zu zeichnen, daß aber das Lehrziel der Gymnasien und Mädchenschulen ein ganz andres ist. Zweitens aber — und das hängt unmittelbar mit dem ersten zusammen ^-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/432>, abgerufen am 08.01.2025.