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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Die Reform unsers Zeichenunterrichts

Striche, um rechte Winkel, um eine symmetrische Figur. Es ist aber ein
Unterschied, ob man einem Kinde das Gefühl giebt: Du zeichnest da ein
Viereck, oder ob man ihm sagt: Du zeichnest da einen Tisch oder ein Fenster.
Und man braucht kein geschulter Pädagog zu sein, um zu wissen, daß es
einen Tisch mit mehr Liebe zeichnet als ein Quadrat. Will man ihm außer¬
dem noch sagen: Der Tisch hat die Form eines Quadrats, so ist das ja nicht
ausgeschlossen. Aber man vermeide jede weitere geometrische Unterweisung
und lasse nicht jahrelang geometrische Formen zeichnen, die nicht aus den wirk¬
lichen Gegenständen abgeleitet sind.

Gegen diese Lebensformen hat sich nnn in gewissen Lehrerkreisen ein
wahrer Sturm der Entrüstung erhoben, man sucht sie als theoretische Klügelei
auf jede Weise lächerlich zu machen. Mich läßt das außerordentlich kalt.
Denn diese Klügelei stammt nicht von mir, sondern von -- Pestnlozzi und
Fröbel. Ich habe nur einen wohldurchdachten und praktisch erprobten Ge¬
danken dieser beiden berühmten Pädagogen aufgegriffen, und wie ich glaube,
den gegenwärtigen Bedürfnissen angepaßt. Übrigens will ich hier mitteilen,
daß mir in den letzten Jahren wiederholt Zuschriften von Zeichenlehrern zu¬
gegangen sind, die gerade diese Lebensformen in ihren Unterricht eingeführt und
damit die besten Erfahrungen gemacht haben. Die Sache steht also keineswegs
so, daß die Methodiker sagen konnten: Hie Praxis, dort Theorie, sondern
vielmehr so: Hie Pestcilozzi und Fröbel und eine große Schar jüngerer
Praktiker, die für die Lebensformen eintreten, dort die Vertreter der herrschenden
Methode, die sich mit Hand und Fuß dagegen sträuben, das Zeichnen in Ver¬
bindung mit der Natur zu bringen und als Vorbereitung zur Kunst, d. h. zum
ästhetischen Spiel zu betrachten. Dabei denken sie sich diese Lebensformen immer
unwillkürlich als Lehrstoff ihrer jüngsten Schüler, d. h. zehn- bis elfjähriger
Kinder, für die natürlich dieses spielende Zeichnen nichts mehr ist. während wir
sie uns als Aufgabe sechs- bis siebenjähriger Kinder denken, deren geistigen
Bedürfnissen dieser Lehrstoff vorzüglich entspricht. Man hat zwar von vielen
Seiten behauptet, es wäre besser, den Kindern von vornherein die plastischen
Gegenstände selbst vorzulegen, anstatt schematischer Flächennachbildungen, allein
die praktische Erfahrung lehrt -- und eine einfache Reflexion bestätigt es --,
daß jeder Zeichenunterricht von der Fläche ausgehen muß, während das Zeichnen
räumlicher Gebilde schon eine höhere Entwicklung der künstlerischen Illusion
voraussetzt.

Über den Massenunterricht, das Ideal unsrer heutigen Zeichenpädagogen,
kann ich mich kurz fassen. Er widerspricht so sehr dem Wesen jeder künstle¬
rischen Thätigkeit und wird schon durch pädagogische Erwägungen so sehr auf
die untersten Stufen beschränkt, daß ihn kein verständiger Mensch für etwas
andres halten wird, als ein unter den gegenwärtigen Verhältnissen notwendiges
Übel. In großen Klassen und bei beschränkter Zeit kann der Lehrer natürlich


Die Reform unsers Zeichenunterrichts

Striche, um rechte Winkel, um eine symmetrische Figur. Es ist aber ein
Unterschied, ob man einem Kinde das Gefühl giebt: Du zeichnest da ein
Viereck, oder ob man ihm sagt: Du zeichnest da einen Tisch oder ein Fenster.
Und man braucht kein geschulter Pädagog zu sein, um zu wissen, daß es
einen Tisch mit mehr Liebe zeichnet als ein Quadrat. Will man ihm außer¬
dem noch sagen: Der Tisch hat die Form eines Quadrats, so ist das ja nicht
ausgeschlossen. Aber man vermeide jede weitere geometrische Unterweisung
und lasse nicht jahrelang geometrische Formen zeichnen, die nicht aus den wirk¬
lichen Gegenständen abgeleitet sind.

Gegen diese Lebensformen hat sich nnn in gewissen Lehrerkreisen ein
wahrer Sturm der Entrüstung erhoben, man sucht sie als theoretische Klügelei
auf jede Weise lächerlich zu machen. Mich läßt das außerordentlich kalt.
Denn diese Klügelei stammt nicht von mir, sondern von — Pestnlozzi und
Fröbel. Ich habe nur einen wohldurchdachten und praktisch erprobten Ge¬
danken dieser beiden berühmten Pädagogen aufgegriffen, und wie ich glaube,
den gegenwärtigen Bedürfnissen angepaßt. Übrigens will ich hier mitteilen,
daß mir in den letzten Jahren wiederholt Zuschriften von Zeichenlehrern zu¬
gegangen sind, die gerade diese Lebensformen in ihren Unterricht eingeführt und
damit die besten Erfahrungen gemacht haben. Die Sache steht also keineswegs
so, daß die Methodiker sagen konnten: Hie Praxis, dort Theorie, sondern
vielmehr so: Hie Pestcilozzi und Fröbel und eine große Schar jüngerer
Praktiker, die für die Lebensformen eintreten, dort die Vertreter der herrschenden
Methode, die sich mit Hand und Fuß dagegen sträuben, das Zeichnen in Ver¬
bindung mit der Natur zu bringen und als Vorbereitung zur Kunst, d. h. zum
ästhetischen Spiel zu betrachten. Dabei denken sie sich diese Lebensformen immer
unwillkürlich als Lehrstoff ihrer jüngsten Schüler, d. h. zehn- bis elfjähriger
Kinder, für die natürlich dieses spielende Zeichnen nichts mehr ist. während wir
sie uns als Aufgabe sechs- bis siebenjähriger Kinder denken, deren geistigen
Bedürfnissen dieser Lehrstoff vorzüglich entspricht. Man hat zwar von vielen
Seiten behauptet, es wäre besser, den Kindern von vornherein die plastischen
Gegenstände selbst vorzulegen, anstatt schematischer Flächennachbildungen, allein
die praktische Erfahrung lehrt — und eine einfache Reflexion bestätigt es —,
daß jeder Zeichenunterricht von der Fläche ausgehen muß, während das Zeichnen
räumlicher Gebilde schon eine höhere Entwicklung der künstlerischen Illusion
voraussetzt.

Über den Massenunterricht, das Ideal unsrer heutigen Zeichenpädagogen,
kann ich mich kurz fassen. Er widerspricht so sehr dem Wesen jeder künstle¬
rischen Thätigkeit und wird schon durch pädagogische Erwägungen so sehr auf
die untersten Stufen beschränkt, daß ihn kein verständiger Mensch für etwas
andres halten wird, als ein unter den gegenwärtigen Verhältnissen notwendiges
Übel. In großen Klassen und bei beschränkter Zeit kann der Lehrer natürlich


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[0430] Die Reform unsers Zeichenunterrichts Striche, um rechte Winkel, um eine symmetrische Figur. Es ist aber ein Unterschied, ob man einem Kinde das Gefühl giebt: Du zeichnest da ein Viereck, oder ob man ihm sagt: Du zeichnest da einen Tisch oder ein Fenster. Und man braucht kein geschulter Pädagog zu sein, um zu wissen, daß es einen Tisch mit mehr Liebe zeichnet als ein Quadrat. Will man ihm außer¬ dem noch sagen: Der Tisch hat die Form eines Quadrats, so ist das ja nicht ausgeschlossen. Aber man vermeide jede weitere geometrische Unterweisung und lasse nicht jahrelang geometrische Formen zeichnen, die nicht aus den wirk¬ lichen Gegenständen abgeleitet sind. Gegen diese Lebensformen hat sich nnn in gewissen Lehrerkreisen ein wahrer Sturm der Entrüstung erhoben, man sucht sie als theoretische Klügelei auf jede Weise lächerlich zu machen. Mich läßt das außerordentlich kalt. Denn diese Klügelei stammt nicht von mir, sondern von — Pestnlozzi und Fröbel. Ich habe nur einen wohldurchdachten und praktisch erprobten Ge¬ danken dieser beiden berühmten Pädagogen aufgegriffen, und wie ich glaube, den gegenwärtigen Bedürfnissen angepaßt. Übrigens will ich hier mitteilen, daß mir in den letzten Jahren wiederholt Zuschriften von Zeichenlehrern zu¬ gegangen sind, die gerade diese Lebensformen in ihren Unterricht eingeführt und damit die besten Erfahrungen gemacht haben. Die Sache steht also keineswegs so, daß die Methodiker sagen konnten: Hie Praxis, dort Theorie, sondern vielmehr so: Hie Pestcilozzi und Fröbel und eine große Schar jüngerer Praktiker, die für die Lebensformen eintreten, dort die Vertreter der herrschenden Methode, die sich mit Hand und Fuß dagegen sträuben, das Zeichnen in Ver¬ bindung mit der Natur zu bringen und als Vorbereitung zur Kunst, d. h. zum ästhetischen Spiel zu betrachten. Dabei denken sie sich diese Lebensformen immer unwillkürlich als Lehrstoff ihrer jüngsten Schüler, d. h. zehn- bis elfjähriger Kinder, für die natürlich dieses spielende Zeichnen nichts mehr ist. während wir sie uns als Aufgabe sechs- bis siebenjähriger Kinder denken, deren geistigen Bedürfnissen dieser Lehrstoff vorzüglich entspricht. Man hat zwar von vielen Seiten behauptet, es wäre besser, den Kindern von vornherein die plastischen Gegenstände selbst vorzulegen, anstatt schematischer Flächennachbildungen, allein die praktische Erfahrung lehrt — und eine einfache Reflexion bestätigt es —, daß jeder Zeichenunterricht von der Fläche ausgehen muß, während das Zeichnen räumlicher Gebilde schon eine höhere Entwicklung der künstlerischen Illusion voraussetzt. Über den Massenunterricht, das Ideal unsrer heutigen Zeichenpädagogen, kann ich mich kurz fassen. Er widerspricht so sehr dem Wesen jeder künstle¬ rischen Thätigkeit und wird schon durch pädagogische Erwägungen so sehr auf die untersten Stufen beschränkt, daß ihn kein verständiger Mensch für etwas andres halten wird, als ein unter den gegenwärtigen Verhältnissen notwendiges Übel. In großen Klassen und bei beschränkter Zeit kann der Lehrer natürlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/430>, abgerufen am 08.01.2025.