Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland war er diesem Tohuwabohu gegenüber machtlos. Geradezu fürchterlich war Kaum von einem Menschen habe ich so viel in Moskau reden hören wie Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland war er diesem Tohuwabohu gegenüber machtlos. Geradezu fürchterlich war Kaum von einem Menschen habe ich so viel in Moskau reden hören wie <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0042" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223626"/> <fw type="header" place="top"> Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland</fw><lb/> <p xml:id="ID_106" prev="#ID_105"> war er diesem Tohuwabohu gegenüber machtlos. Geradezu fürchterlich war<lb/> das Gedränge auf den Brücken und namentlich an den Zugängen zu den<lb/> Brücken, hier liefen die Menschen, namentlich die Weiber einfach in die Pferde<lb/> der Wagenreihen hinein; es ist ein Wunder, daß nicht mehr Unglücksfälle<lb/> vorgekommen sind. Die Vorschrift, wonach die Wagen in einem großen<lb/> Kreise durch die Stadt fahren sollten, erwies sich als zu künstlich. Manche<lb/> Wagen mußten stundenlang, namentlich an den Brücken, halten bleiben; mit<lb/> einem Wort, die Moskaner hatten Recht, wenn sie erklärten, Herr Wlassowskij<lb/> könne zwar Jswoschtschiks anschnauzen und Dworniks peinigen, aber organisiren<lb/> könne er nicht.</p><lb/> <p xml:id="ID_107" next="#ID_108"> Kaum von einem Menschen habe ich so viel in Moskau reden hören wie<lb/> von dem Polizeimeister Wlassowskij. Er führte noch nicht den amtlichen Titel<lb/> als Polizeimeister, weil dazu Generalrang erforderlich ist, er aber noch Oberst<lb/> war; man erwartete, daß er nach der Krönung zum General ernannt werden<lb/> würde. Aber es kam ganz anders. Wlassowskij gefiel sich in der Rolle eines<lb/> Schreckgespenstes; in einem kleinen Wagen Pflegte er durch die Stadt zu jagen,<lb/> neben sich einen jungen Beamten, der, ein Büchlein in der Hand, alle kleinen<lb/> Unregelmäßigkeiten aufzuschreiben hatte. Er erreichte seinen Zweck: die Goro-<lb/> dowoi (Schutzleute), die Droschkenkutscher und Hausmeister lebten in einer be¬<lb/> stündigen Furcht vor ihm. Wie oft habe ich ihn dahinsausen sehen, den einen<lb/> Fuß auf dem Trittbrett des Wagens, das Naubtiergesicht vorgebeugt, wie<lb/> zum Sprunge bereit. Besondern Staat machte er mit seinen Pferden, sie ge¬<lb/> hörten zu den schönsten in Moskau, und oft sah man ihn an einem Tage erst<lb/> mit Rappen, dann mit Apfelschimmeln, dann mit Füchsen fahren, meist das<lb/> Handpferd in der Gabel, das Sattelpferd spielend daneben. Auch damit, wie<lb/> mit seinem ganzen Auftreten, wollte er Aufsehen erregen. Er hatte, so hieß<lb/> es, den Befehl, „Ordnung" zu schaffen in Moskau. Er hat denn auch erreicht,<lb/> daß die Jswoschtschiks jetzt das „Rechtsfahren" gelernt haben und in weitem<lb/> Bogen um die an den Straßenecken aufgestellten Polizisten herumfahren.<lb/> Außer solchen Kleinigkeiten aber ist es mit der „Ordnung" wohl so ziemlich<lb/> beim alten geblieben. Nur daß er noch sein Personal aufgefrischt hat; er hat<lb/> eine große Zahl älterer, vielleicht allerdings zu bequemer Polizeibeamten dnrch<lb/> junge schneidige Offiziere ersetzt; aber es ist nicht unmöglich, daß gerade das<lb/> in den Krönungstagen von schädlicher Wirkung war: jedenfalls versagte die<lb/> Maschine schon am Abend des Einzugstages, bei der ersten Illumination der<lb/> Stadt. Einen biedern Pvlizeiwachtmeister aus Petersburg (denn aus ganz<lb/> Rußland waren Hilfskräfte herzugeholt worden) hörte ich über die schlechte<lb/> Zucht der Moskaner Polizisten sein Entsetzen äußern. So liebenswürdig diese<lb/> Leute in gewöhnlichen Zeiten sind, fast so wie die Londoner Konstabler, in<lb/> diesen kritischen Tagen verloren sie vielfach den Kopf, bald wurden sie unnötig<lb/> grob, bald fügten sie sich ohne Grund dem Andrängen des Publikums. Sie</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0042]
Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland
war er diesem Tohuwabohu gegenüber machtlos. Geradezu fürchterlich war
das Gedränge auf den Brücken und namentlich an den Zugängen zu den
Brücken, hier liefen die Menschen, namentlich die Weiber einfach in die Pferde
der Wagenreihen hinein; es ist ein Wunder, daß nicht mehr Unglücksfälle
vorgekommen sind. Die Vorschrift, wonach die Wagen in einem großen
Kreise durch die Stadt fahren sollten, erwies sich als zu künstlich. Manche
Wagen mußten stundenlang, namentlich an den Brücken, halten bleiben; mit
einem Wort, die Moskaner hatten Recht, wenn sie erklärten, Herr Wlassowskij
könne zwar Jswoschtschiks anschnauzen und Dworniks peinigen, aber organisiren
könne er nicht.
Kaum von einem Menschen habe ich so viel in Moskau reden hören wie
von dem Polizeimeister Wlassowskij. Er führte noch nicht den amtlichen Titel
als Polizeimeister, weil dazu Generalrang erforderlich ist, er aber noch Oberst
war; man erwartete, daß er nach der Krönung zum General ernannt werden
würde. Aber es kam ganz anders. Wlassowskij gefiel sich in der Rolle eines
Schreckgespenstes; in einem kleinen Wagen Pflegte er durch die Stadt zu jagen,
neben sich einen jungen Beamten, der, ein Büchlein in der Hand, alle kleinen
Unregelmäßigkeiten aufzuschreiben hatte. Er erreichte seinen Zweck: die Goro-
dowoi (Schutzleute), die Droschkenkutscher und Hausmeister lebten in einer be¬
stündigen Furcht vor ihm. Wie oft habe ich ihn dahinsausen sehen, den einen
Fuß auf dem Trittbrett des Wagens, das Naubtiergesicht vorgebeugt, wie
zum Sprunge bereit. Besondern Staat machte er mit seinen Pferden, sie ge¬
hörten zu den schönsten in Moskau, und oft sah man ihn an einem Tage erst
mit Rappen, dann mit Apfelschimmeln, dann mit Füchsen fahren, meist das
Handpferd in der Gabel, das Sattelpferd spielend daneben. Auch damit, wie
mit seinem ganzen Auftreten, wollte er Aufsehen erregen. Er hatte, so hieß
es, den Befehl, „Ordnung" zu schaffen in Moskau. Er hat denn auch erreicht,
daß die Jswoschtschiks jetzt das „Rechtsfahren" gelernt haben und in weitem
Bogen um die an den Straßenecken aufgestellten Polizisten herumfahren.
Außer solchen Kleinigkeiten aber ist es mit der „Ordnung" wohl so ziemlich
beim alten geblieben. Nur daß er noch sein Personal aufgefrischt hat; er hat
eine große Zahl älterer, vielleicht allerdings zu bequemer Polizeibeamten dnrch
junge schneidige Offiziere ersetzt; aber es ist nicht unmöglich, daß gerade das
in den Krönungstagen von schädlicher Wirkung war: jedenfalls versagte die
Maschine schon am Abend des Einzugstages, bei der ersten Illumination der
Stadt. Einen biedern Pvlizeiwachtmeister aus Petersburg (denn aus ganz
Rußland waren Hilfskräfte herzugeholt worden) hörte ich über die schlechte
Zucht der Moskaner Polizisten sein Entsetzen äußern. So liebenswürdig diese
Leute in gewöhnlichen Zeiten sind, fast so wie die Londoner Konstabler, in
diesen kritischen Tagen verloren sie vielfach den Kopf, bald wurden sie unnötig
grob, bald fügten sie sich ohne Grund dem Andrängen des Publikums. Sie
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |