Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Reform unsers Zeichenunterrichts

kennen lernen, mit ihrem Geist durchdringen. Aber dazu ist nicht die Zeichen¬
stunde, sondern die Geometriestunde da. Dort ist der Platz, wo dem Kinde
die räumliche Anschauung in verstandesmäßiger Weise vermittelt werden soll.
Und der Lehrer der Mathematik ist der gegebne Mann, diesen Unterricht
zu erteilen. Ich habe mich immer darüber gewundert, daß er sich diesen
Eingriff in seine Thätigkeit gefallen läßt, daß er nicht gegen die weit
verbreitete Übung protestirt, daß der Zeichenlehrer den Kindern die ersten
geometrischen Anschauungen beibringt und mit dem Zeichnen einen Ballast
theoretischer Erklärungen verbindet, der eigentlich vollständig in sein Bereich fiele.

Ich habe durchaus nichts dagegen, wenn mit dem geometrischen Unterricht
schon in der Quinta eine Stunde im konstruktiven Zeichnen verbunden wird,
wo der Knabe, wie z.B. in den badischen Gymnasien, mit Zirkel und Lineal,
mit Winkel und Reißschiene umgehen lernt. Ich pflichte auch vollkommen
meinem mathematischen Kollegen Brill bei, wenn er sür die obern Klassen
des Gymnasiums einen von dem Lehrer der Mathematik zu gebenden
in Kursus der darstellenden Geometrie verlangt. Aber alles das ist eben
Mathematik. Zeichnen ist keine Mathematik, sondern Kunst. Jede Kunst ist
eine Art Spiel, und ihr Wesen besteht darin, daß sie mit Vergnügen aus¬
geübt, mit Lust genossen wird. Man kann wohl beim Zeichnen Formen
anwenden, die einen mehr oder weniger geometrischen Charakter haben, aber
man soll sie immer in künstlerischem Sinne verwenden. Jede Kunst arbeitet
mit Symbolen, d. h. mit Formen, die irgend etwas bedeuten, den Genießenden
zu irgend einer Vorstellung, einem Gefühl anregen. Eine geometrische Figur
aber bedeutet -- wenigstens einem Kinde -- nichts, das Kind stellt sich nichts
andres darunter vor, sondern faßt sie nur verstandesmäßig auf. Und wenn
man diese verstandesmäßige Auffassung gar durch mathematische Belehrungen,
durch pedantisches Wertlegen auf einen saubern und geraden Strich, durch
"Diktatzeichnen" und sonstigen militärischen Drill noch mehr zu betonen sucht,
so löst man den Zeichenunterricht vollkommen von der Kunst los und macht
ihn zu einer wahren Qual für die Schüler. Ich habe Kinder kennen gelernt, die
an einundderselben Figur Wochen, Monate, ja halbe Jahre lang zeichneten,
die Linien immer wieder wegradirten und von neuem zogen, bis das Papier
vollkommen durchgerieben war, und die sich schließlich in einen solchen Haß
gegen ihre Zeichnung und den ganzen Unterricht hineingearbeitet hatten, daß
sie ihr "Kunstwerk" auf dem Schulwege absichtlich in den Dreck traten, um
nur endlich eine andre Vorlage zu erhalten.

Die Zeichenlehrer sagen freilich: das ist nicht wahr, das kann vielleicht
bei einem ganz schlechten Lehrer einmal vorkommen, aber bei einem guten
Lehrer ist es unmöglich. Gewiß, ich will gern zugeben, daß es auch gute
Lehrer giebt, die derartige Mißgriffe nicht machen. Gegen die ist natürlich
meine ganze Polemik nicht gerichtet. Aber ich weiß auch, daß gegenwärtig


Die Reform unsers Zeichenunterrichts

kennen lernen, mit ihrem Geist durchdringen. Aber dazu ist nicht die Zeichen¬
stunde, sondern die Geometriestunde da. Dort ist der Platz, wo dem Kinde
die räumliche Anschauung in verstandesmäßiger Weise vermittelt werden soll.
Und der Lehrer der Mathematik ist der gegebne Mann, diesen Unterricht
zu erteilen. Ich habe mich immer darüber gewundert, daß er sich diesen
Eingriff in seine Thätigkeit gefallen läßt, daß er nicht gegen die weit
verbreitete Übung protestirt, daß der Zeichenlehrer den Kindern die ersten
geometrischen Anschauungen beibringt und mit dem Zeichnen einen Ballast
theoretischer Erklärungen verbindet, der eigentlich vollständig in sein Bereich fiele.

Ich habe durchaus nichts dagegen, wenn mit dem geometrischen Unterricht
schon in der Quinta eine Stunde im konstruktiven Zeichnen verbunden wird,
wo der Knabe, wie z.B. in den badischen Gymnasien, mit Zirkel und Lineal,
mit Winkel und Reißschiene umgehen lernt. Ich pflichte auch vollkommen
meinem mathematischen Kollegen Brill bei, wenn er sür die obern Klassen
des Gymnasiums einen von dem Lehrer der Mathematik zu gebenden
in Kursus der darstellenden Geometrie verlangt. Aber alles das ist eben
Mathematik. Zeichnen ist keine Mathematik, sondern Kunst. Jede Kunst ist
eine Art Spiel, und ihr Wesen besteht darin, daß sie mit Vergnügen aus¬
geübt, mit Lust genossen wird. Man kann wohl beim Zeichnen Formen
anwenden, die einen mehr oder weniger geometrischen Charakter haben, aber
man soll sie immer in künstlerischem Sinne verwenden. Jede Kunst arbeitet
mit Symbolen, d. h. mit Formen, die irgend etwas bedeuten, den Genießenden
zu irgend einer Vorstellung, einem Gefühl anregen. Eine geometrische Figur
aber bedeutet — wenigstens einem Kinde — nichts, das Kind stellt sich nichts
andres darunter vor, sondern faßt sie nur verstandesmäßig auf. Und wenn
man diese verstandesmäßige Auffassung gar durch mathematische Belehrungen,
durch pedantisches Wertlegen auf einen saubern und geraden Strich, durch
„Diktatzeichnen" und sonstigen militärischen Drill noch mehr zu betonen sucht,
so löst man den Zeichenunterricht vollkommen von der Kunst los und macht
ihn zu einer wahren Qual für die Schüler. Ich habe Kinder kennen gelernt, die
an einundderselben Figur Wochen, Monate, ja halbe Jahre lang zeichneten,
die Linien immer wieder wegradirten und von neuem zogen, bis das Papier
vollkommen durchgerieben war, und die sich schließlich in einen solchen Haß
gegen ihre Zeichnung und den ganzen Unterricht hineingearbeitet hatten, daß
sie ihr „Kunstwerk" auf dem Schulwege absichtlich in den Dreck traten, um
nur endlich eine andre Vorlage zu erhalten.

Die Zeichenlehrer sagen freilich: das ist nicht wahr, das kann vielleicht
bei einem ganz schlechten Lehrer einmal vorkommen, aber bei einem guten
Lehrer ist es unmöglich. Gewiß, ich will gern zugeben, daß es auch gute
Lehrer giebt, die derartige Mißgriffe nicht machen. Gegen die ist natürlich
meine ganze Polemik nicht gerichtet. Aber ich weiß auch, daß gegenwärtig


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0428" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224012"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Reform unsers Zeichenunterrichts</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1279" prev="#ID_1278"> kennen lernen, mit ihrem Geist durchdringen. Aber dazu ist nicht die Zeichen¬<lb/>
stunde, sondern die Geometriestunde da. Dort ist der Platz, wo dem Kinde<lb/>
die räumliche Anschauung in verstandesmäßiger Weise vermittelt werden soll.<lb/>
Und der Lehrer der Mathematik ist der gegebne Mann, diesen Unterricht<lb/>
zu erteilen. Ich habe mich immer darüber gewundert, daß er sich diesen<lb/>
Eingriff in seine Thätigkeit gefallen läßt, daß er nicht gegen die weit<lb/>
verbreitete Übung protestirt, daß der Zeichenlehrer den Kindern die ersten<lb/>
geometrischen Anschauungen beibringt und mit dem Zeichnen einen Ballast<lb/>
theoretischer Erklärungen verbindet, der eigentlich vollständig in sein Bereich fiele.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1280"> Ich habe durchaus nichts dagegen, wenn mit dem geometrischen Unterricht<lb/>
schon in der Quinta eine Stunde im konstruktiven Zeichnen verbunden wird,<lb/>
wo der Knabe, wie z.B. in den badischen Gymnasien, mit Zirkel und Lineal,<lb/>
mit Winkel und Reißschiene umgehen lernt. Ich pflichte auch vollkommen<lb/>
meinem mathematischen Kollegen Brill bei, wenn er sür die obern Klassen<lb/>
des Gymnasiums einen von dem Lehrer der Mathematik zu gebenden<lb/>
in Kursus der darstellenden Geometrie verlangt. Aber alles das ist eben<lb/>
Mathematik. Zeichnen ist keine Mathematik, sondern Kunst. Jede Kunst ist<lb/>
eine Art Spiel, und ihr Wesen besteht darin, daß sie mit Vergnügen aus¬<lb/>
geübt, mit Lust genossen wird. Man kann wohl beim Zeichnen Formen<lb/>
anwenden, die einen mehr oder weniger geometrischen Charakter haben, aber<lb/>
man soll sie immer in künstlerischem Sinne verwenden. Jede Kunst arbeitet<lb/>
mit Symbolen, d. h. mit Formen, die irgend etwas bedeuten, den Genießenden<lb/>
zu irgend einer Vorstellung, einem Gefühl anregen. Eine geometrische Figur<lb/>
aber bedeutet &#x2014; wenigstens einem Kinde &#x2014; nichts, das Kind stellt sich nichts<lb/>
andres darunter vor, sondern faßt sie nur verstandesmäßig auf. Und wenn<lb/>
man diese verstandesmäßige Auffassung gar durch mathematische Belehrungen,<lb/>
durch pedantisches Wertlegen auf einen saubern und geraden Strich, durch<lb/>
&#x201E;Diktatzeichnen" und sonstigen militärischen Drill noch mehr zu betonen sucht,<lb/>
so löst man den Zeichenunterricht vollkommen von der Kunst los und macht<lb/>
ihn zu einer wahren Qual für die Schüler. Ich habe Kinder kennen gelernt, die<lb/>
an einundderselben Figur Wochen, Monate, ja halbe Jahre lang zeichneten,<lb/>
die Linien immer wieder wegradirten und von neuem zogen, bis das Papier<lb/>
vollkommen durchgerieben war, und die sich schließlich in einen solchen Haß<lb/>
gegen ihre Zeichnung und den ganzen Unterricht hineingearbeitet hatten, daß<lb/>
sie ihr &#x201E;Kunstwerk" auf dem Schulwege absichtlich in den Dreck traten, um<lb/>
nur endlich eine andre Vorlage zu erhalten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1281" next="#ID_1282"> Die Zeichenlehrer sagen freilich: das ist nicht wahr, das kann vielleicht<lb/>
bei einem ganz schlechten Lehrer einmal vorkommen, aber bei einem guten<lb/>
Lehrer ist es unmöglich. Gewiß, ich will gern zugeben, daß es auch gute<lb/>
Lehrer giebt, die derartige Mißgriffe nicht machen. Gegen die ist natürlich<lb/>
meine ganze Polemik nicht gerichtet.  Aber ich weiß auch, daß gegenwärtig</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0428] Die Reform unsers Zeichenunterrichts kennen lernen, mit ihrem Geist durchdringen. Aber dazu ist nicht die Zeichen¬ stunde, sondern die Geometriestunde da. Dort ist der Platz, wo dem Kinde die räumliche Anschauung in verstandesmäßiger Weise vermittelt werden soll. Und der Lehrer der Mathematik ist der gegebne Mann, diesen Unterricht zu erteilen. Ich habe mich immer darüber gewundert, daß er sich diesen Eingriff in seine Thätigkeit gefallen läßt, daß er nicht gegen die weit verbreitete Übung protestirt, daß der Zeichenlehrer den Kindern die ersten geometrischen Anschauungen beibringt und mit dem Zeichnen einen Ballast theoretischer Erklärungen verbindet, der eigentlich vollständig in sein Bereich fiele. Ich habe durchaus nichts dagegen, wenn mit dem geometrischen Unterricht schon in der Quinta eine Stunde im konstruktiven Zeichnen verbunden wird, wo der Knabe, wie z.B. in den badischen Gymnasien, mit Zirkel und Lineal, mit Winkel und Reißschiene umgehen lernt. Ich pflichte auch vollkommen meinem mathematischen Kollegen Brill bei, wenn er sür die obern Klassen des Gymnasiums einen von dem Lehrer der Mathematik zu gebenden in Kursus der darstellenden Geometrie verlangt. Aber alles das ist eben Mathematik. Zeichnen ist keine Mathematik, sondern Kunst. Jede Kunst ist eine Art Spiel, und ihr Wesen besteht darin, daß sie mit Vergnügen aus¬ geübt, mit Lust genossen wird. Man kann wohl beim Zeichnen Formen anwenden, die einen mehr oder weniger geometrischen Charakter haben, aber man soll sie immer in künstlerischem Sinne verwenden. Jede Kunst arbeitet mit Symbolen, d. h. mit Formen, die irgend etwas bedeuten, den Genießenden zu irgend einer Vorstellung, einem Gefühl anregen. Eine geometrische Figur aber bedeutet — wenigstens einem Kinde — nichts, das Kind stellt sich nichts andres darunter vor, sondern faßt sie nur verstandesmäßig auf. Und wenn man diese verstandesmäßige Auffassung gar durch mathematische Belehrungen, durch pedantisches Wertlegen auf einen saubern und geraden Strich, durch „Diktatzeichnen" und sonstigen militärischen Drill noch mehr zu betonen sucht, so löst man den Zeichenunterricht vollkommen von der Kunst los und macht ihn zu einer wahren Qual für die Schüler. Ich habe Kinder kennen gelernt, die an einundderselben Figur Wochen, Monate, ja halbe Jahre lang zeichneten, die Linien immer wieder wegradirten und von neuem zogen, bis das Papier vollkommen durchgerieben war, und die sich schließlich in einen solchen Haß gegen ihre Zeichnung und den ganzen Unterricht hineingearbeitet hatten, daß sie ihr „Kunstwerk" auf dem Schulwege absichtlich in den Dreck traten, um nur endlich eine andre Vorlage zu erhalten. Die Zeichenlehrer sagen freilich: das ist nicht wahr, das kann vielleicht bei einem ganz schlechten Lehrer einmal vorkommen, aber bei einem guten Lehrer ist es unmöglich. Gewiß, ich will gern zugeben, daß es auch gute Lehrer giebt, die derartige Mißgriffe nicht machen. Gegen die ist natürlich meine ganze Polemik nicht gerichtet. Aber ich weiß auch, daß gegenwärtig

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/428
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/428>, abgerufen am 08.01.2025.