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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Vie Reform unsers Zeichenunterrichts

Dünkel, der sich darin ausspricht, daß man eine Ansicht als dilettantisch
verwirft, die Männer wie Pestalozzi und Fröbel sür die richtige hielten.

Aber freilich, die Zeichenlehrer kommen mit dieser ihrer pädagogischen
Überzeugung den Wünschen der Schulverwaltungen entgegen, die das Kind in
den ersten Schuljahren möglichst entlasten möchten, und da muß selbst der sonst
so hoch verehrte Pestalozzi schweigen. Daß die Entlastung viel richtiger durch
Verringerung des mechanischen Auswendiglernens uuverstandner Gesangbuch¬
verse und Bibelsprüche bewirkt werden würde, und daß ein möglichst unpedantisch
betriebner Zeichenunterricht dem Wesen eines sechsjährigen Kindes jedenfalls
besser entspricht, als irgend ein anderer Unterrichtszweig, der nur das Ge¬
dächtnis übt und nicht die Phantasie ausbildet, das liegt doch wohl auf der
Hand.

Aber gerade von diesem spielenden Unterricht wollen unsre Methodiker
nichts wissen. Das würde ja den ganzen Unterrichtszweig herabsetzen, und sie
wollen doch um jeden Preis mit den Vertretern der andern Fächer gleich¬
berechtigt sein. Also: vor allen Dingen Ernst und Würde. Nur ja dem
Kinde die Sache nicht leicht machen! Nur ja nicht den Anschein erwecken,
als ob Zeichnen ein Vergnügen wäre! Beileibe nicht! Im Schweiße deines
Angesichts sollst du zeichnen lernen! Wie bringt man das fertig?

Nichts einfacher als das. Nachdem man den eingebornen Zeichentrieb
des Kindes bis zum zehnten oder elften Jahre hat brach liegen lassen, sodaß
er nur noch wie ein mattes Fünkchen glüht, häuft man mit großer Mühe die
Asche der grauen Theorie und des verstandesmäßigen Einpaukens darauf. Jahre¬
lang darf das Kind nur geometrische Figuren, gerade und krumme Linien,
Dreiecke, Vierecke, Kreise, Polygone und Sterne zeichnen. In drolliger Weise
streitet man sich herum, ob besser mit dem Dreieck oder mit dem Viereck begonnen
werde, ob man erst den Kreis und dann das Achteck oder erst das Achteck und
dann den Kreis zeichnen lassen solle, ob nicht die fein durchdachten geometrischen
Kurse von Flinzer oder Stuhlmann in irgend einer wichtigen Einzelheit ver¬
bessert oder verändert werden können. Aber darüber scheint keinem ein Zweifel
SU kommen, ob dieser Stoff überhaupt für die ersten Jahre der richtige sei.

Und nun denke man sich ein Kind mit seinem lebhaften Interesse für
"lies inhaltlich interessante, für die zahllosen Gegenstände in seiner Umgebung,
wie seiner nach Nahrung durstenden Phantasie, seinem angebornen künstlerischen
Illusionsbedürfnis! Was sollen dem all diese nüchternen und nichtssagenden
D'rige? Was ist für einen zehnjährigen Knaben ein Dreieck, ein Viereck,
eine Verschlingung zweier Polygone? Nichts, eine leere Form, ein Schemen,
eine Abstraktion, die ihm absolut nichts sagt, zu der er nicht die mindesten
gefühlsmäßigen Beziehungen hat!

Man verstehe mich nicht falsch. Ich will selbstverständlich nicht, daß die
Kinder von diesen Dingen überhaupt nichts erfahren. Sie sollen alles das


Vie Reform unsers Zeichenunterrichts

Dünkel, der sich darin ausspricht, daß man eine Ansicht als dilettantisch
verwirft, die Männer wie Pestalozzi und Fröbel sür die richtige hielten.

Aber freilich, die Zeichenlehrer kommen mit dieser ihrer pädagogischen
Überzeugung den Wünschen der Schulverwaltungen entgegen, die das Kind in
den ersten Schuljahren möglichst entlasten möchten, und da muß selbst der sonst
so hoch verehrte Pestalozzi schweigen. Daß die Entlastung viel richtiger durch
Verringerung des mechanischen Auswendiglernens uuverstandner Gesangbuch¬
verse und Bibelsprüche bewirkt werden würde, und daß ein möglichst unpedantisch
betriebner Zeichenunterricht dem Wesen eines sechsjährigen Kindes jedenfalls
besser entspricht, als irgend ein anderer Unterrichtszweig, der nur das Ge¬
dächtnis übt und nicht die Phantasie ausbildet, das liegt doch wohl auf der
Hand.

Aber gerade von diesem spielenden Unterricht wollen unsre Methodiker
nichts wissen. Das würde ja den ganzen Unterrichtszweig herabsetzen, und sie
wollen doch um jeden Preis mit den Vertretern der andern Fächer gleich¬
berechtigt sein. Also: vor allen Dingen Ernst und Würde. Nur ja dem
Kinde die Sache nicht leicht machen! Nur ja nicht den Anschein erwecken,
als ob Zeichnen ein Vergnügen wäre! Beileibe nicht! Im Schweiße deines
Angesichts sollst du zeichnen lernen! Wie bringt man das fertig?

Nichts einfacher als das. Nachdem man den eingebornen Zeichentrieb
des Kindes bis zum zehnten oder elften Jahre hat brach liegen lassen, sodaß
er nur noch wie ein mattes Fünkchen glüht, häuft man mit großer Mühe die
Asche der grauen Theorie und des verstandesmäßigen Einpaukens darauf. Jahre¬
lang darf das Kind nur geometrische Figuren, gerade und krumme Linien,
Dreiecke, Vierecke, Kreise, Polygone und Sterne zeichnen. In drolliger Weise
streitet man sich herum, ob besser mit dem Dreieck oder mit dem Viereck begonnen
werde, ob man erst den Kreis und dann das Achteck oder erst das Achteck und
dann den Kreis zeichnen lassen solle, ob nicht die fein durchdachten geometrischen
Kurse von Flinzer oder Stuhlmann in irgend einer wichtigen Einzelheit ver¬
bessert oder verändert werden können. Aber darüber scheint keinem ein Zweifel
SU kommen, ob dieser Stoff überhaupt für die ersten Jahre der richtige sei.

Und nun denke man sich ein Kind mit seinem lebhaften Interesse für
"lies inhaltlich interessante, für die zahllosen Gegenstände in seiner Umgebung,
wie seiner nach Nahrung durstenden Phantasie, seinem angebornen künstlerischen
Illusionsbedürfnis! Was sollen dem all diese nüchternen und nichtssagenden
D'rige? Was ist für einen zehnjährigen Knaben ein Dreieck, ein Viereck,
eine Verschlingung zweier Polygone? Nichts, eine leere Form, ein Schemen,
eine Abstraktion, die ihm absolut nichts sagt, zu der er nicht die mindesten
gefühlsmäßigen Beziehungen hat!

Man verstehe mich nicht falsch. Ich will selbstverständlich nicht, daß die
Kinder von diesen Dingen überhaupt nichts erfahren. Sie sollen alles das


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[0427] Vie Reform unsers Zeichenunterrichts Dünkel, der sich darin ausspricht, daß man eine Ansicht als dilettantisch verwirft, die Männer wie Pestalozzi und Fröbel sür die richtige hielten. Aber freilich, die Zeichenlehrer kommen mit dieser ihrer pädagogischen Überzeugung den Wünschen der Schulverwaltungen entgegen, die das Kind in den ersten Schuljahren möglichst entlasten möchten, und da muß selbst der sonst so hoch verehrte Pestalozzi schweigen. Daß die Entlastung viel richtiger durch Verringerung des mechanischen Auswendiglernens uuverstandner Gesangbuch¬ verse und Bibelsprüche bewirkt werden würde, und daß ein möglichst unpedantisch betriebner Zeichenunterricht dem Wesen eines sechsjährigen Kindes jedenfalls besser entspricht, als irgend ein anderer Unterrichtszweig, der nur das Ge¬ dächtnis übt und nicht die Phantasie ausbildet, das liegt doch wohl auf der Hand. Aber gerade von diesem spielenden Unterricht wollen unsre Methodiker nichts wissen. Das würde ja den ganzen Unterrichtszweig herabsetzen, und sie wollen doch um jeden Preis mit den Vertretern der andern Fächer gleich¬ berechtigt sein. Also: vor allen Dingen Ernst und Würde. Nur ja dem Kinde die Sache nicht leicht machen! Nur ja nicht den Anschein erwecken, als ob Zeichnen ein Vergnügen wäre! Beileibe nicht! Im Schweiße deines Angesichts sollst du zeichnen lernen! Wie bringt man das fertig? Nichts einfacher als das. Nachdem man den eingebornen Zeichentrieb des Kindes bis zum zehnten oder elften Jahre hat brach liegen lassen, sodaß er nur noch wie ein mattes Fünkchen glüht, häuft man mit großer Mühe die Asche der grauen Theorie und des verstandesmäßigen Einpaukens darauf. Jahre¬ lang darf das Kind nur geometrische Figuren, gerade und krumme Linien, Dreiecke, Vierecke, Kreise, Polygone und Sterne zeichnen. In drolliger Weise streitet man sich herum, ob besser mit dem Dreieck oder mit dem Viereck begonnen werde, ob man erst den Kreis und dann das Achteck oder erst das Achteck und dann den Kreis zeichnen lassen solle, ob nicht die fein durchdachten geometrischen Kurse von Flinzer oder Stuhlmann in irgend einer wichtigen Einzelheit ver¬ bessert oder verändert werden können. Aber darüber scheint keinem ein Zweifel SU kommen, ob dieser Stoff überhaupt für die ersten Jahre der richtige sei. Und nun denke man sich ein Kind mit seinem lebhaften Interesse für "lies inhaltlich interessante, für die zahllosen Gegenstände in seiner Umgebung, wie seiner nach Nahrung durstenden Phantasie, seinem angebornen künstlerischen Illusionsbedürfnis! Was sollen dem all diese nüchternen und nichtssagenden D'rige? Was ist für einen zehnjährigen Knaben ein Dreieck, ein Viereck, eine Verschlingung zweier Polygone? Nichts, eine leere Form, ein Schemen, eine Abstraktion, die ihm absolut nichts sagt, zu der er nicht die mindesten gefühlsmäßigen Beziehungen hat! Man verstehe mich nicht falsch. Ich will selbstverständlich nicht, daß die Kinder von diesen Dingen überhaupt nichts erfahren. Sie sollen alles das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/427>, abgerufen am 08.01.2025.