Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Die Reform unsers Zeichenunterrichts sei von einer wirklichen Blüte dieses Unterrichtszweigs die Rede. Allein sie Die Schuld daran trägt die jetzt herrschende Methode, wonach die Kinder Der Zeichentrieb stellt sich beim normalen Kinde mit dem vierten oder Die Reform unsers Zeichenunterrichts sei von einer wirklichen Blüte dieses Unterrichtszweigs die Rede. Allein sie Die Schuld daran trägt die jetzt herrschende Methode, wonach die Kinder Der Zeichentrieb stellt sich beim normalen Kinde mit dem vierten oder <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0426" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224010"/> <fw type="header" place="top"> Die Reform unsers Zeichenunterrichts</fw><lb/> <p xml:id="ID_1270" prev="#ID_1269"> sei von einer wirklichen Blüte dieses Unterrichtszweigs die Rede. Allein sie<lb/> irren sich. Das ergiebt sich nicht nur aus der wahrhaft bagatellmäßigen Be¬<lb/> handlung, die die höhern Schulbehörden dem Zeichenunterricht zu teil werden<lb/> lassen, sondern ganz besonders daraus, daß fast in allen auf Kunstunterricht<lb/> bezüglichen Schriften akademisch gebildeter Gymnasiallehrer, die in den<lb/> letzten Jahren erschienen sind, der Zeichenunterricht gänzlich übergangen,<lb/> d. h. doch als ungenügend, ja gewissermaßen als gar nicht vorhanden be¬<lb/> trachtet wird. Und damit stimmt das Urteil des gebildeten Publikums über¬<lb/> ein. Man halte nur einmal Umschau in seinem eignen Bekanntenkreise, man<lb/> frage die Eltern schulpflichtiger Kinder, was sie von dem Zeichenunterricht auf<lb/> der Schule denken: man wird erstaunt sein über die Bemerkungen, die man<lb/> da zu hören bekommt. Wie viele Eltern habe ich schon klagen hören, daß<lb/> ihre Kinder auf der Schule so gar nichts im Zeichnen lernten! Sie selbst haben<lb/> doch in ihrer Jugend gern gezeichnet, und nun müssen sie an ihren Kindern<lb/> erleben, daß sie nur mit dem größten Widerwillen in die Zeichenstunde gehen,<lb/> daß ihnen das Zeichnen ein Greuel ist, daß sie sich, so früh es irgend geht,<lb/> davon dispensiren lassen. Ein Vater sagte mir sogar: Ich muß meinen Sohn<lb/> jetzt leider aus der Zeichenstunde nehmen, denn der Junge hat Talent(!), und<lb/> das würde ja bei diesem Unterricht nur verkümmern. Es gilt vielfach geradezu<lb/> als ausgemacht, daß man Zeichnen nicht in der Schule, sondern nur durch<lb/> Privatunterricht lernen könne. Wie ist das gekommen, und wie ist so etwas<lb/> möglich?</p><lb/> <p xml:id="ID_1271"> Die Schuld daran trägt die jetzt herrschende Methode, wonach die Kinder<lb/> erstens viel zu spät zu zeichnen anfangen, zweitens in den untern Klassen,<lb/> meistens bis ins vierzehnte oder fünfzehnte Jahr hinein, nur geometrische<lb/> Figuren und Ornamente zeichnen, drittens so lange wie möglich in der Form<lb/> des Massenunterrichts ausgebildet werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1272" next="#ID_1273"> Der Zeichentrieb stellt sich beim normalen Kinde mit dem vierten oder<lb/> fünften Jahre ein. Da es als pädagogische Regel gilt, einen Untcrrichtszweig<lb/> womöglich dann zu beginnen, wenn der Trieb dazu erwacht, so sollte man denken,<lb/> daß die Kinder schon vom ersten Schuljahr an, wenn auch vielleicht zuerst<lb/> spielend, im Zeichnen unterrichtet würden. Weit gefehlt! Die modernen Me¬<lb/> thodiker werden nicht müde, zu versichern, daß sich Hand und Auge erst im<lb/> neunten oder zehnten Jahre soweit entwickeln, daß man den Zeichenunterricht<lb/> mit Erfolg beginnen könne. Sie sehen es geradezu als ihre Aufgabe an, Mittel<lb/> und Wege zu finden, den Beginn des Zeichenunterrichts so weit wie möglich<lb/> hinauszuschieben, und spotten über uns Laien, daß wir ohne jede pädagogische<lb/> Erfahrung behaupten, ein sechsjähriges Kind könne zeichnen lernen. Wir<lb/> Laien kennen aber die Geschichte der Pädagogik leidlich gut und wissen, daß<lb/> Pestalozzi und Fröbel das Zeichnen schon mit fünf Jahren, wenn nicht gar<lb/> früher beginnen ließen, und wir wundern uns höchlich über den pädagogischen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0426]
Die Reform unsers Zeichenunterrichts
sei von einer wirklichen Blüte dieses Unterrichtszweigs die Rede. Allein sie
irren sich. Das ergiebt sich nicht nur aus der wahrhaft bagatellmäßigen Be¬
handlung, die die höhern Schulbehörden dem Zeichenunterricht zu teil werden
lassen, sondern ganz besonders daraus, daß fast in allen auf Kunstunterricht
bezüglichen Schriften akademisch gebildeter Gymnasiallehrer, die in den
letzten Jahren erschienen sind, der Zeichenunterricht gänzlich übergangen,
d. h. doch als ungenügend, ja gewissermaßen als gar nicht vorhanden be¬
trachtet wird. Und damit stimmt das Urteil des gebildeten Publikums über¬
ein. Man halte nur einmal Umschau in seinem eignen Bekanntenkreise, man
frage die Eltern schulpflichtiger Kinder, was sie von dem Zeichenunterricht auf
der Schule denken: man wird erstaunt sein über die Bemerkungen, die man
da zu hören bekommt. Wie viele Eltern habe ich schon klagen hören, daß
ihre Kinder auf der Schule so gar nichts im Zeichnen lernten! Sie selbst haben
doch in ihrer Jugend gern gezeichnet, und nun müssen sie an ihren Kindern
erleben, daß sie nur mit dem größten Widerwillen in die Zeichenstunde gehen,
daß ihnen das Zeichnen ein Greuel ist, daß sie sich, so früh es irgend geht,
davon dispensiren lassen. Ein Vater sagte mir sogar: Ich muß meinen Sohn
jetzt leider aus der Zeichenstunde nehmen, denn der Junge hat Talent(!), und
das würde ja bei diesem Unterricht nur verkümmern. Es gilt vielfach geradezu
als ausgemacht, daß man Zeichnen nicht in der Schule, sondern nur durch
Privatunterricht lernen könne. Wie ist das gekommen, und wie ist so etwas
möglich?
Die Schuld daran trägt die jetzt herrschende Methode, wonach die Kinder
erstens viel zu spät zu zeichnen anfangen, zweitens in den untern Klassen,
meistens bis ins vierzehnte oder fünfzehnte Jahr hinein, nur geometrische
Figuren und Ornamente zeichnen, drittens so lange wie möglich in der Form
des Massenunterrichts ausgebildet werden.
Der Zeichentrieb stellt sich beim normalen Kinde mit dem vierten oder
fünften Jahre ein. Da es als pädagogische Regel gilt, einen Untcrrichtszweig
womöglich dann zu beginnen, wenn der Trieb dazu erwacht, so sollte man denken,
daß die Kinder schon vom ersten Schuljahr an, wenn auch vielleicht zuerst
spielend, im Zeichnen unterrichtet würden. Weit gefehlt! Die modernen Me¬
thodiker werden nicht müde, zu versichern, daß sich Hand und Auge erst im
neunten oder zehnten Jahre soweit entwickeln, daß man den Zeichenunterricht
mit Erfolg beginnen könne. Sie sehen es geradezu als ihre Aufgabe an, Mittel
und Wege zu finden, den Beginn des Zeichenunterrichts so weit wie möglich
hinauszuschieben, und spotten über uns Laien, daß wir ohne jede pädagogische
Erfahrung behaupten, ein sechsjähriges Kind könne zeichnen lernen. Wir
Laien kennen aber die Geschichte der Pädagogik leidlich gut und wissen, daß
Pestalozzi und Fröbel das Zeichnen schon mit fünf Jahren, wenn nicht gar
früher beginnen ließen, und wir wundern uns höchlich über den pädagogischen
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