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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Der junge Hamerling

erst der besondre Stammbaum aufgestellt, und wenn der Zehnjährige dem
Stifte Zwettl anvertraut wird, müssen wir zunächst eine Geschichte des ganzen
Cisterzienservrdens schlucken. Was sollen uns alle die endlosen Zensuren, die
der überall "eminent" fleißige Robert im langen Stufengang der Klassen ein¬
heimst, was all die Notizensammlungen, die sich sein Leseeifer anlegt, was all
die langen Konfessionen, die so sehr befangen und so wenig originell sind!
Und doch liegt der Hauptwert des Rabeulechnerschen Buches in den Tage¬
buchaufzeichnungen und sonstigen Selbstbekenntnissen Hamerlings, die er uns
zum erstenmale erschließt.

Denn unnaiv und zur mikroskopischen Selbstschau geneigt war auch der
junge Hamerling schon, ein durch und durch subjektiver und reflexiver Charakter,
der fast nur in und aus sich selbst wuchs und deshalb zu irgend einer fremden
Individualität kaum je ein lebendiges Verhältnis fand.

Auch zu seinen Eltern nicht. Selten braucht über elterlichen Einfluß
oder über das gerade bei Dichtern sonst so schwierige Kapitel Sohn und Vater
weniger gesagt zu werden als bei Hamerling. Er war ein guter Sohn, voll
Pietät und Dankbarkeit, der sich Zeit seines Lebens, auch als er schon von
der Gunst der großen Welt umschmeichelt war, als Kind seiner einfachen Ver¬
hältnisse fühlte. Demütig und ohne Murren kauerte er sich in Wien, als er
ins Schottengymnasium kam, mit seiner Mutter in ein kleines Stübchen und
half durch mühseligen Privatunterricht mit an der Unterhaltung des kärglichen
Hausstandes. Sonst war er eher ein Vater- als ein Mutterkind. Die ihn
zur Welt gebracht, hätte ihm aus ihrer starken, kantigen Natur höchstens den
scharfen Verstand mitgeben können; Milde und Herzensempfänglichkeit hatte er
aber vom Vater, der sich beides auch noch zu bewahren wußte, als er, durch
ein widriges Geschick aus Hab und Haus vertrieben, ans Erwerb in die rauhe
Fremde ziehen mußte. Das war in den ersten Lebensjahren seines Sohnes;
mit der Zeit hören wir wenig oder gar nichts von ihm, das für die Ent¬
wicklung Roberts erwähnenswerte Bedeutung hätte. Wenn der Sohn aus
der Ferne -- nie ohne eine gewisse Sehnsucht -- nach Hause schreibt, so ver¬
missen wir in seinen Briefen den Zug des warmen Gemüts, das kindliche
Vertrauen in Kleinigkeiten, die offenherzige Plauderhaftigkeit, die zusammen
erst die rechte Kindheit ausmachen, die aber wohl immer fehlen, wenn sich vor
der Zeit fremde Mächte an Elternstelle setzen und mit ihrer Rationalität die
unersetzliche Gemeinschaft jener winzigen Alltagssorgen und -freuten zerreißen,
die erst Herz zu Herz und Mund zu Munde zwingen. So kommt es denn,
daß der Junge den geistig Enterbten daheim immer nur von seinen Schul¬
erfolgen zu berichten weiß, am Namensfeste des Vaters keinen wahrem und
innigern Glückwunschansdruck zu finden vermag, als daß er allzeit auf seines
Erzeugers wahres Heil bedacht sei und deshalb anstatt vergänglicher Güter
am Ziele des Lebens die Krone der Tugend für ihn erflehe. Schüchtern und


Der junge Hamerling

erst der besondre Stammbaum aufgestellt, und wenn der Zehnjährige dem
Stifte Zwettl anvertraut wird, müssen wir zunächst eine Geschichte des ganzen
Cisterzienservrdens schlucken. Was sollen uns alle die endlosen Zensuren, die
der überall „eminent" fleißige Robert im langen Stufengang der Klassen ein¬
heimst, was all die Notizensammlungen, die sich sein Leseeifer anlegt, was all
die langen Konfessionen, die so sehr befangen und so wenig originell sind!
Und doch liegt der Hauptwert des Rabeulechnerschen Buches in den Tage¬
buchaufzeichnungen und sonstigen Selbstbekenntnissen Hamerlings, die er uns
zum erstenmale erschließt.

Denn unnaiv und zur mikroskopischen Selbstschau geneigt war auch der
junge Hamerling schon, ein durch und durch subjektiver und reflexiver Charakter,
der fast nur in und aus sich selbst wuchs und deshalb zu irgend einer fremden
Individualität kaum je ein lebendiges Verhältnis fand.

Auch zu seinen Eltern nicht. Selten braucht über elterlichen Einfluß
oder über das gerade bei Dichtern sonst so schwierige Kapitel Sohn und Vater
weniger gesagt zu werden als bei Hamerling. Er war ein guter Sohn, voll
Pietät und Dankbarkeit, der sich Zeit seines Lebens, auch als er schon von
der Gunst der großen Welt umschmeichelt war, als Kind seiner einfachen Ver¬
hältnisse fühlte. Demütig und ohne Murren kauerte er sich in Wien, als er
ins Schottengymnasium kam, mit seiner Mutter in ein kleines Stübchen und
half durch mühseligen Privatunterricht mit an der Unterhaltung des kärglichen
Hausstandes. Sonst war er eher ein Vater- als ein Mutterkind. Die ihn
zur Welt gebracht, hätte ihm aus ihrer starken, kantigen Natur höchstens den
scharfen Verstand mitgeben können; Milde und Herzensempfänglichkeit hatte er
aber vom Vater, der sich beides auch noch zu bewahren wußte, als er, durch
ein widriges Geschick aus Hab und Haus vertrieben, ans Erwerb in die rauhe
Fremde ziehen mußte. Das war in den ersten Lebensjahren seines Sohnes;
mit der Zeit hören wir wenig oder gar nichts von ihm, das für die Ent¬
wicklung Roberts erwähnenswerte Bedeutung hätte. Wenn der Sohn aus
der Ferne — nie ohne eine gewisse Sehnsucht — nach Hause schreibt, so ver¬
missen wir in seinen Briefen den Zug des warmen Gemüts, das kindliche
Vertrauen in Kleinigkeiten, die offenherzige Plauderhaftigkeit, die zusammen
erst die rechte Kindheit ausmachen, die aber wohl immer fehlen, wenn sich vor
der Zeit fremde Mächte an Elternstelle setzen und mit ihrer Rationalität die
unersetzliche Gemeinschaft jener winzigen Alltagssorgen und -freuten zerreißen,
die erst Herz zu Herz und Mund zu Munde zwingen. So kommt es denn,
daß der Junge den geistig Enterbten daheim immer nur von seinen Schul¬
erfolgen zu berichten weiß, am Namensfeste des Vaters keinen wahrem und
innigern Glückwunschansdruck zu finden vermag, als daß er allzeit auf seines
Erzeugers wahres Heil bedacht sei und deshalb anstatt vergänglicher Güter
am Ziele des Lebens die Krone der Tugend für ihn erflehe. Schüchtern und


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[0415] Der junge Hamerling erst der besondre Stammbaum aufgestellt, und wenn der Zehnjährige dem Stifte Zwettl anvertraut wird, müssen wir zunächst eine Geschichte des ganzen Cisterzienservrdens schlucken. Was sollen uns alle die endlosen Zensuren, die der überall „eminent" fleißige Robert im langen Stufengang der Klassen ein¬ heimst, was all die Notizensammlungen, die sich sein Leseeifer anlegt, was all die langen Konfessionen, die so sehr befangen und so wenig originell sind! Und doch liegt der Hauptwert des Rabeulechnerschen Buches in den Tage¬ buchaufzeichnungen und sonstigen Selbstbekenntnissen Hamerlings, die er uns zum erstenmale erschließt. Denn unnaiv und zur mikroskopischen Selbstschau geneigt war auch der junge Hamerling schon, ein durch und durch subjektiver und reflexiver Charakter, der fast nur in und aus sich selbst wuchs und deshalb zu irgend einer fremden Individualität kaum je ein lebendiges Verhältnis fand. Auch zu seinen Eltern nicht. Selten braucht über elterlichen Einfluß oder über das gerade bei Dichtern sonst so schwierige Kapitel Sohn und Vater weniger gesagt zu werden als bei Hamerling. Er war ein guter Sohn, voll Pietät und Dankbarkeit, der sich Zeit seines Lebens, auch als er schon von der Gunst der großen Welt umschmeichelt war, als Kind seiner einfachen Ver¬ hältnisse fühlte. Demütig und ohne Murren kauerte er sich in Wien, als er ins Schottengymnasium kam, mit seiner Mutter in ein kleines Stübchen und half durch mühseligen Privatunterricht mit an der Unterhaltung des kärglichen Hausstandes. Sonst war er eher ein Vater- als ein Mutterkind. Die ihn zur Welt gebracht, hätte ihm aus ihrer starken, kantigen Natur höchstens den scharfen Verstand mitgeben können; Milde und Herzensempfänglichkeit hatte er aber vom Vater, der sich beides auch noch zu bewahren wußte, als er, durch ein widriges Geschick aus Hab und Haus vertrieben, ans Erwerb in die rauhe Fremde ziehen mußte. Das war in den ersten Lebensjahren seines Sohnes; mit der Zeit hören wir wenig oder gar nichts von ihm, das für die Ent¬ wicklung Roberts erwähnenswerte Bedeutung hätte. Wenn der Sohn aus der Ferne — nie ohne eine gewisse Sehnsucht — nach Hause schreibt, so ver¬ missen wir in seinen Briefen den Zug des warmen Gemüts, das kindliche Vertrauen in Kleinigkeiten, die offenherzige Plauderhaftigkeit, die zusammen erst die rechte Kindheit ausmachen, die aber wohl immer fehlen, wenn sich vor der Zeit fremde Mächte an Elternstelle setzen und mit ihrer Rationalität die unersetzliche Gemeinschaft jener winzigen Alltagssorgen und -freuten zerreißen, die erst Herz zu Herz und Mund zu Munde zwingen. So kommt es denn, daß der Junge den geistig Enterbten daheim immer nur von seinen Schul¬ erfolgen zu berichten weiß, am Namensfeste des Vaters keinen wahrem und innigern Glückwunschansdruck zu finden vermag, als daß er allzeit auf seines Erzeugers wahres Heil bedacht sei und deshalb anstatt vergänglicher Güter am Ziele des Lebens die Krone der Tugend für ihn erflehe. Schüchtern und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/415>, abgerufen am 08.01.2025.