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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Zur Frauenfrage

hatten wir etwa 24 Millionen weibliche Personen. Von diesen befanden sich
ungefähr acht Millionen im heiratsfähigen Alter, d. h. in dem Alter von
achtzehn bis achtundzwanzig Jahren. Es kamen also auf den Jahrgang etwa
800000 heiratsfähige Mädchen. Nun haben in dem genannten Jahre 368629
Mädchen und Witwen 'geheiratet, sodaß also mehr als die Hälfte der vor-
handnen Mädchen hat ledig bleiben müssen. Beachten wir dann, daß die Ver¬
heiratungen in den untern Volksschichten viel zahlreicher sind als in den obern,
so kommen wir zu dem betrübenden Ergebnis, daß sich in unserm gebildeten
Mittelstande von hundert Mädchen knapp fünfundzwanzig verheiraten. Gerade
die Töchter unsrer vermögenslosen, nur auf ihren Gehalt angewiesenen höhern
Beamten, Professoren, Offiziere, Pfarrer, Lehrer usw. haben heutzutage die
geringste Aussicht, einen eignen Herd zu gründen.

Zum Glück läßt sich in diesen Kreisen bezüglich der Arbeitslust des weib¬
lichen Geschlechts ein großer Fortschritt beobachten. Man überläßt es heute
nicht mehr englischen und amerikanischen "Ladies," ehrbare Geschäfte zu be¬
treiben, in Magazinen zu stehen und Kunden zu bedienen, wenn es die Ver¬
hältnisse erheischen. Fast überall hat sich die Erkenntnis Bahn gebrochen,
daß die Arbeit den Menschen adelt. Man besinnt sich wieder auf die Haupt¬
aufgabe der Erziehung, tüchtige Hausfrauen heranzubilden. Man wählt mit
Recht bei der Vorbildung solche Erwerbszweige, die mit dem häuslichen Leben,
dem eigentlichen Vereich der Frau, irgend eine Verwandtschaft aufzeigen. Man
weiß, daß es für das Mädchen um so besser ist, je mehr häusliches Gepräge
der gewählte Beruf trägt. Sprache und Musikunterricht wird nicht mehr ein¬
seitig berücksichtigt, sondern es treten Arbeits- und Fortbildungsschulen dazu.
Mit Recht; denn nun erst kann man bei Todes- und Unglücksfällen der Zu¬
kunft ruhig ins Auge sehen. Nutzlose Klagen verstummen, es bieten sich Mittel
und Wege zum Fortkommen dar.

Wir können hier vor allem bei dem englischen Volk mit seinem praktischen
^inn in die Lehre gehen. Dort ist in der neuern Zeit eine Reihe von An¬
stalten gegründet worden, die den Wünschen und Bedürfnissen der gebildeten
lassen in hohem Maße gerecht werden. Unberechenbar ist der Segen, der
von (jusMg Oollsg'v, von den unter dem Namen Bedfort und Girton bekannten
Instituten, auch von dem vor zehn Jahren eröffneten RoM Hollovi,^ LolIöM
bei London ausgegangen ist. Wie viel könnte erreicht werden, wenn unter
Berücksichtigung deutscher Eigentümlichkeiten ähnliche Anstalten bei uns ins
Leben gerufen würden! Wir sind ja jetzt so weit, daß man auch die streng
wissenschaftliche Bildung des weiblichen Geschlechts in die Hand genommen
hat; und es sind Männer mit Namen von gutem Klang, die sich dafür intcr-
Gren: Barth, Baumbach, Rickert, F. Förster, v. Gneist, Harnack, Kristeller,
Puulsen, Pfleiderer, Schmoller, Settegast. Die Frage ist nun: Was fangen
wir mit den weiblichen Abiturienten an, da wir heute schon in Verlegenheit
!ob, wenn wir den männlichen Rat erteilen sollen?


Zur Frauenfrage

hatten wir etwa 24 Millionen weibliche Personen. Von diesen befanden sich
ungefähr acht Millionen im heiratsfähigen Alter, d. h. in dem Alter von
achtzehn bis achtundzwanzig Jahren. Es kamen also auf den Jahrgang etwa
800000 heiratsfähige Mädchen. Nun haben in dem genannten Jahre 368629
Mädchen und Witwen 'geheiratet, sodaß also mehr als die Hälfte der vor-
handnen Mädchen hat ledig bleiben müssen. Beachten wir dann, daß die Ver¬
heiratungen in den untern Volksschichten viel zahlreicher sind als in den obern,
so kommen wir zu dem betrübenden Ergebnis, daß sich in unserm gebildeten
Mittelstande von hundert Mädchen knapp fünfundzwanzig verheiraten. Gerade
die Töchter unsrer vermögenslosen, nur auf ihren Gehalt angewiesenen höhern
Beamten, Professoren, Offiziere, Pfarrer, Lehrer usw. haben heutzutage die
geringste Aussicht, einen eignen Herd zu gründen.

Zum Glück läßt sich in diesen Kreisen bezüglich der Arbeitslust des weib¬
lichen Geschlechts ein großer Fortschritt beobachten. Man überläßt es heute
nicht mehr englischen und amerikanischen „Ladies," ehrbare Geschäfte zu be¬
treiben, in Magazinen zu stehen und Kunden zu bedienen, wenn es die Ver¬
hältnisse erheischen. Fast überall hat sich die Erkenntnis Bahn gebrochen,
daß die Arbeit den Menschen adelt. Man besinnt sich wieder auf die Haupt¬
aufgabe der Erziehung, tüchtige Hausfrauen heranzubilden. Man wählt mit
Recht bei der Vorbildung solche Erwerbszweige, die mit dem häuslichen Leben,
dem eigentlichen Vereich der Frau, irgend eine Verwandtschaft aufzeigen. Man
weiß, daß es für das Mädchen um so besser ist, je mehr häusliches Gepräge
der gewählte Beruf trägt. Sprache und Musikunterricht wird nicht mehr ein¬
seitig berücksichtigt, sondern es treten Arbeits- und Fortbildungsschulen dazu.
Mit Recht; denn nun erst kann man bei Todes- und Unglücksfällen der Zu¬
kunft ruhig ins Auge sehen. Nutzlose Klagen verstummen, es bieten sich Mittel
und Wege zum Fortkommen dar.

Wir können hier vor allem bei dem englischen Volk mit seinem praktischen
^inn in die Lehre gehen. Dort ist in der neuern Zeit eine Reihe von An¬
stalten gegründet worden, die den Wünschen und Bedürfnissen der gebildeten
lassen in hohem Maße gerecht werden. Unberechenbar ist der Segen, der
von (jusMg Oollsg'v, von den unter dem Namen Bedfort und Girton bekannten
Instituten, auch von dem vor zehn Jahren eröffneten RoM Hollovi,^ LolIöM
bei London ausgegangen ist. Wie viel könnte erreicht werden, wenn unter
Berücksichtigung deutscher Eigentümlichkeiten ähnliche Anstalten bei uns ins
Leben gerufen würden! Wir sind ja jetzt so weit, daß man auch die streng
wissenschaftliche Bildung des weiblichen Geschlechts in die Hand genommen
hat; und es sind Männer mit Namen von gutem Klang, die sich dafür intcr-
Gren: Barth, Baumbach, Rickert, F. Förster, v. Gneist, Harnack, Kristeller,
Puulsen, Pfleiderer, Schmoller, Settegast. Die Frage ist nun: Was fangen
wir mit den weiblichen Abiturienten an, da wir heute schon in Verlegenheit
!ob, wenn wir den männlichen Rat erteilen sollen?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/379>, abgerufen am 08.01.2025.