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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Zur Frauenfrage

Oberhand bekommen sollen oder nicht. Heute läßt sich das noch nicht voraus-
bestimmen. Wer aber für die berechtigten Bestrebungen der Frauenwelt Sinn
nud Herz hat, der weiß genau, auf welche Seite er sich zu stellen hat. Nur
dann, wenn der frühere Geist der Mäßigung in den Kongreß zurückkehrt, kann
von einer gedeihlichen Fortentwicklung die Rede sein.

Wer einmal über die Frauenfrage nachgedacht hat, der wird sich nicht
verhehlen, daß es sich hier um eines der schwierigsten Probleme der Gegen¬
wart handelt. Von heute auf morgen kann das nicht gelöst werden. Aber
zu irgend einer Lösung muß es kommen. Kein Verständiger wird die Notlage
leugnen, unter der ein großer Teil der Frauenwelt seufzt. Die immer mehr
überHand nehmende Ehelosigkeit, die Verdrängung der Handarbeit durch die
Maschine, die Gefahren für die allgemeine Sittlichkeit, die aus der Arbeits¬
losigkeit oder aus knappen Lohn entspringen, das alles verdient die ernsteste
Beachtung. Welches Heer von Mädchen ist ausschließlich auf die eigne Arbeits¬
kraft angewiesen! Kaum mehr als der Hälfte des weiblichen Geschlechts ist
es vergönnt, zu heiraten. Als bei einer Volkszählung vor dreißig Jahren be¬
kannt wurde, daß sich in Preußen allein 700000 Witwen und Unvermählte
fanden, da entstand auf deutschem Boden die Frauenbewegung. Niemand
kennt ferner die Masse jener verheirateten Frauen, die einen besondern Erwerb
suchen müssen, weil der Verdienst des Mannes zur Erhaltung der Familie
nicht ausreicht. Mag auch Ursprung und Entwicklung beider Fragen ganz
verschieden sein, so treffen doch beide Richtungen in dem einen Punkte zu¬
sammen: in dem Ruf nach größerer Freiheit, nach ausgedehnteren Rechten.
Der Frauenverein will dem Weibe weitere Erwerbskreise erschließen, und er
thut gut daran, seine Zelte weit zu spannen und ebenso die Gründung von
Prvduktivgesellschafteu zu betreiben wie die Errichtung von Jndnstrieausstel-
luugeu für weibliche Arbeitserzeugnisse und die Schaffung von Mädchen-
industrieschulcu ins Ange zu fassen.

Vor allem wird bei dem furchtbaren Ernst, den die Arbeiterverhältnisse
überall haben, ein gutes Mittel zu dauernder Besserung in der wirtschaftlichen
^orbildnng der unbemittelten Mädchen als der künftigen Arbeiterfrauen zu
lllchen sein. steigende Verarmung, daneben Streben nach Unabhängigkeit und
Freiheit führt einen großen Teil vermögensloser Mädchen in die Fabriken.
Sobald die Schuljahre vorüber sind, eilen sie dort zur Arbeit, um sich selbst
^rot zu verschaffen, vielleicht auch Angehörige zu unterstützen. Da sie vom
frühen Morgen bis zum späten Abend beschäftigt sind, ist von einem Erlernen
Hauswirtschaft, wie Kochen, Waschen, Neinigen, Nähen so gut wie keine
Rede. Machen sie sich ja noch andre Gedanken, so spielt das Vergnügen und
der Kleiderluxus die Hauptrolle. Nicht selten geraten sie dabei, weil die
Mittel zur Befriedigung ihrer Wünsche fehlen, auf abschüssige Bahnen. Im
günstige" Full erreichen sie eine Heirat, aber diese kommt oft viel zu früh für


Grenzboten IV Z896 47
Zur Frauenfrage

Oberhand bekommen sollen oder nicht. Heute läßt sich das noch nicht voraus-
bestimmen. Wer aber für die berechtigten Bestrebungen der Frauenwelt Sinn
nud Herz hat, der weiß genau, auf welche Seite er sich zu stellen hat. Nur
dann, wenn der frühere Geist der Mäßigung in den Kongreß zurückkehrt, kann
von einer gedeihlichen Fortentwicklung die Rede sein.

Wer einmal über die Frauenfrage nachgedacht hat, der wird sich nicht
verhehlen, daß es sich hier um eines der schwierigsten Probleme der Gegen¬
wart handelt. Von heute auf morgen kann das nicht gelöst werden. Aber
zu irgend einer Lösung muß es kommen. Kein Verständiger wird die Notlage
leugnen, unter der ein großer Teil der Frauenwelt seufzt. Die immer mehr
überHand nehmende Ehelosigkeit, die Verdrängung der Handarbeit durch die
Maschine, die Gefahren für die allgemeine Sittlichkeit, die aus der Arbeits¬
losigkeit oder aus knappen Lohn entspringen, das alles verdient die ernsteste
Beachtung. Welches Heer von Mädchen ist ausschließlich auf die eigne Arbeits¬
kraft angewiesen! Kaum mehr als der Hälfte des weiblichen Geschlechts ist
es vergönnt, zu heiraten. Als bei einer Volkszählung vor dreißig Jahren be¬
kannt wurde, daß sich in Preußen allein 700000 Witwen und Unvermählte
fanden, da entstand auf deutschem Boden die Frauenbewegung. Niemand
kennt ferner die Masse jener verheirateten Frauen, die einen besondern Erwerb
suchen müssen, weil der Verdienst des Mannes zur Erhaltung der Familie
nicht ausreicht. Mag auch Ursprung und Entwicklung beider Fragen ganz
verschieden sein, so treffen doch beide Richtungen in dem einen Punkte zu¬
sammen: in dem Ruf nach größerer Freiheit, nach ausgedehnteren Rechten.
Der Frauenverein will dem Weibe weitere Erwerbskreise erschließen, und er
thut gut daran, seine Zelte weit zu spannen und ebenso die Gründung von
Prvduktivgesellschafteu zu betreiben wie die Errichtung von Jndnstrieausstel-
luugeu für weibliche Arbeitserzeugnisse und die Schaffung von Mädchen-
industrieschulcu ins Ange zu fassen.

Vor allem wird bei dem furchtbaren Ernst, den die Arbeiterverhältnisse
überall haben, ein gutes Mittel zu dauernder Besserung in der wirtschaftlichen
^orbildnng der unbemittelten Mädchen als der künftigen Arbeiterfrauen zu
lllchen sein. steigende Verarmung, daneben Streben nach Unabhängigkeit und
Freiheit führt einen großen Teil vermögensloser Mädchen in die Fabriken.
Sobald die Schuljahre vorüber sind, eilen sie dort zur Arbeit, um sich selbst
^rot zu verschaffen, vielleicht auch Angehörige zu unterstützen. Da sie vom
frühen Morgen bis zum späten Abend beschäftigt sind, ist von einem Erlernen
Hauswirtschaft, wie Kochen, Waschen, Neinigen, Nähen so gut wie keine
Rede. Machen sie sich ja noch andre Gedanken, so spielt das Vergnügen und
der Kleiderluxus die Hauptrolle. Nicht selten geraten sie dabei, weil die
Mittel zur Befriedigung ihrer Wünsche fehlen, auf abschüssige Bahnen. Im
günstige» Full erreichen sie eine Heirat, aber diese kommt oft viel zu früh für


Grenzboten IV Z896 47
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[0377] Zur Frauenfrage Oberhand bekommen sollen oder nicht. Heute läßt sich das noch nicht voraus- bestimmen. Wer aber für die berechtigten Bestrebungen der Frauenwelt Sinn nud Herz hat, der weiß genau, auf welche Seite er sich zu stellen hat. Nur dann, wenn der frühere Geist der Mäßigung in den Kongreß zurückkehrt, kann von einer gedeihlichen Fortentwicklung die Rede sein. Wer einmal über die Frauenfrage nachgedacht hat, der wird sich nicht verhehlen, daß es sich hier um eines der schwierigsten Probleme der Gegen¬ wart handelt. Von heute auf morgen kann das nicht gelöst werden. Aber zu irgend einer Lösung muß es kommen. Kein Verständiger wird die Notlage leugnen, unter der ein großer Teil der Frauenwelt seufzt. Die immer mehr überHand nehmende Ehelosigkeit, die Verdrängung der Handarbeit durch die Maschine, die Gefahren für die allgemeine Sittlichkeit, die aus der Arbeits¬ losigkeit oder aus knappen Lohn entspringen, das alles verdient die ernsteste Beachtung. Welches Heer von Mädchen ist ausschließlich auf die eigne Arbeits¬ kraft angewiesen! Kaum mehr als der Hälfte des weiblichen Geschlechts ist es vergönnt, zu heiraten. Als bei einer Volkszählung vor dreißig Jahren be¬ kannt wurde, daß sich in Preußen allein 700000 Witwen und Unvermählte fanden, da entstand auf deutschem Boden die Frauenbewegung. Niemand kennt ferner die Masse jener verheirateten Frauen, die einen besondern Erwerb suchen müssen, weil der Verdienst des Mannes zur Erhaltung der Familie nicht ausreicht. Mag auch Ursprung und Entwicklung beider Fragen ganz verschieden sein, so treffen doch beide Richtungen in dem einen Punkte zu¬ sammen: in dem Ruf nach größerer Freiheit, nach ausgedehnteren Rechten. Der Frauenverein will dem Weibe weitere Erwerbskreise erschließen, und er thut gut daran, seine Zelte weit zu spannen und ebenso die Gründung von Prvduktivgesellschafteu zu betreiben wie die Errichtung von Jndnstrieausstel- luugeu für weibliche Arbeitserzeugnisse und die Schaffung von Mädchen- industrieschulcu ins Ange zu fassen. Vor allem wird bei dem furchtbaren Ernst, den die Arbeiterverhältnisse überall haben, ein gutes Mittel zu dauernder Besserung in der wirtschaftlichen ^orbildnng der unbemittelten Mädchen als der künftigen Arbeiterfrauen zu lllchen sein. steigende Verarmung, daneben Streben nach Unabhängigkeit und Freiheit führt einen großen Teil vermögensloser Mädchen in die Fabriken. Sobald die Schuljahre vorüber sind, eilen sie dort zur Arbeit, um sich selbst ^rot zu verschaffen, vielleicht auch Angehörige zu unterstützen. Da sie vom frühen Morgen bis zum späten Abend beschäftigt sind, ist von einem Erlernen Hauswirtschaft, wie Kochen, Waschen, Neinigen, Nähen so gut wie keine Rede. Machen sie sich ja noch andre Gedanken, so spielt das Vergnügen und der Kleiderluxus die Hauptrolle. Nicht selten geraten sie dabei, weil die Mittel zur Befriedigung ihrer Wünsche fehlen, auf abschüssige Bahnen. Im günstige» Full erreichen sie eine Heirat, aber diese kommt oft viel zu früh für Grenzboten IV Z896 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/377>, abgerufen am 08.01.2025.