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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Willibald Beyschlags Lebenserinnerungen

die ich an jedem Predigttext erfuhr, jene heilige Klassizität des Schriftworts,
die es über jede frömmste und geistvollste nachfolgende Aussprache des christ¬
lichen Geistes emporhebt, schloß mir formale Mängel und Unvollkommenheiten
der Überlieferung, schloß mir überhaupt die echt menschliche Entstehung des
biblischen Schriftworts nicht aus." Hier sind schon die Anfänge der evange¬
lischen Mittelpartei, zu deren Führer und geistigem Haupt Beyschlag später
emporwuchs, vorgezeichnet, der ernste junge Kandidat bekannte sich zu den
Anschauungen seines Lehrers Nitzsch, die dieser eben damals auf der Berliner
preußischen Generalsynode vertreten hatte. "Ein neues Ordinationsformular
(nicht ein neues Glaubensbekenntnis, wie Treitschke im fünften Bande seiner
deutschen Geschichte sagt) hatte Nitzsch vorgeschlagen und die Synode beschlossen.
Und das war nicht nur kein gewagtes und unzeitgemäßes Unternehmen, sondern
das einfachste und dringendste Erfordernis kirchlicher Wahrhaftigkeit, an dessen
damaliger Nichteinführung wir bis heute leiden" -- so ruft er in der Er-
innerung an einen nicht benutzten großen Augenblick in der Geschichte des
deutschen Protestantismus. Er erfuhr und erkannte, "daß die geistige und
sittliche Schwäche der konservativen Partei, zumal der kirchlichen, in der That
ebenso groß wie die Leichtfertigkeit und der Übermut der radikalen und ein
nicht minder bedenkliches Zeichen der Zeit war. Mit wenigen Ausnahmen
begriffen die Gläubigen weder die tiefe Reformbedürftig^ unsrer kirchlichen
Überlieferung, uoch hatten sie den Mut, auch nur ihren Standpunkt mannhaft
zu vertreten."

Was dem Laien, dem Nichtthevlogen aus allen diesen Bekenntnissen und
Andeutungen entgegeuspringt, ist der Eindruck, wie schwer es schon in diesen
vierziger Jahren gerade dem überzeugten, aber gegen die Forderungen und
Formen der neuern Bildung nicht feindselig gestimmten Theologen gemacht
wurde, einen Weg der ehrlichen Überzeugung, des unzweideutigen Bekenntnisses,
der geistlichen Einwirkung zwischen der von der Staatsgewalt begünstigten
starren Orthodoxie und der flachen Lichtfreundlichkeit und kirchlichen Gleich-
giltigkeit der Massen zu finden. In den Theologen und Predigern von dem
Geiste Beyschlags lebte die Ahnung, daß die evangelische Kirche vor geradezu
ungeheuren Aufgaben gestellt sei, von denen ein sehr großer Teil ihrer Ver¬
treter nichts ahnte. Die wirklichen Errungenschaften der neuern Theologie
der Gemeinde zugänglich zu machen, die kirchliche Bildung der bevorzugten
Stände auf die Höhe ihrer weltlichen Bildung zu bringen, dazu die Wahrung
des deutschen Protestantismus gegen die römische und romanisirende Propa¬
ganda, die in jenen Jahrzehnten ihre ersten großen Siege auf deutschem Boden
errang, alles waren Pflichten und Ziele der Kirche selbst und konnten doch
den bescheidensten ihrer Prediger und Lehrer nicht erspart bleiben. In Bey¬
schlags Erinnerungen spiegelt sich daher neben denn persönlichen ein gewaltiges
Stück allgemeines Leben.


Willibald Beyschlags Lebenserinnerungen

die ich an jedem Predigttext erfuhr, jene heilige Klassizität des Schriftworts,
die es über jede frömmste und geistvollste nachfolgende Aussprache des christ¬
lichen Geistes emporhebt, schloß mir formale Mängel und Unvollkommenheiten
der Überlieferung, schloß mir überhaupt die echt menschliche Entstehung des
biblischen Schriftworts nicht aus." Hier sind schon die Anfänge der evange¬
lischen Mittelpartei, zu deren Führer und geistigem Haupt Beyschlag später
emporwuchs, vorgezeichnet, der ernste junge Kandidat bekannte sich zu den
Anschauungen seines Lehrers Nitzsch, die dieser eben damals auf der Berliner
preußischen Generalsynode vertreten hatte. „Ein neues Ordinationsformular
(nicht ein neues Glaubensbekenntnis, wie Treitschke im fünften Bande seiner
deutschen Geschichte sagt) hatte Nitzsch vorgeschlagen und die Synode beschlossen.
Und das war nicht nur kein gewagtes und unzeitgemäßes Unternehmen, sondern
das einfachste und dringendste Erfordernis kirchlicher Wahrhaftigkeit, an dessen
damaliger Nichteinführung wir bis heute leiden" — so ruft er in der Er-
innerung an einen nicht benutzten großen Augenblick in der Geschichte des
deutschen Protestantismus. Er erfuhr und erkannte, „daß die geistige und
sittliche Schwäche der konservativen Partei, zumal der kirchlichen, in der That
ebenso groß wie die Leichtfertigkeit und der Übermut der radikalen und ein
nicht minder bedenkliches Zeichen der Zeit war. Mit wenigen Ausnahmen
begriffen die Gläubigen weder die tiefe Reformbedürftig^ unsrer kirchlichen
Überlieferung, uoch hatten sie den Mut, auch nur ihren Standpunkt mannhaft
zu vertreten."

Was dem Laien, dem Nichtthevlogen aus allen diesen Bekenntnissen und
Andeutungen entgegeuspringt, ist der Eindruck, wie schwer es schon in diesen
vierziger Jahren gerade dem überzeugten, aber gegen die Forderungen und
Formen der neuern Bildung nicht feindselig gestimmten Theologen gemacht
wurde, einen Weg der ehrlichen Überzeugung, des unzweideutigen Bekenntnisses,
der geistlichen Einwirkung zwischen der von der Staatsgewalt begünstigten
starren Orthodoxie und der flachen Lichtfreundlichkeit und kirchlichen Gleich-
giltigkeit der Massen zu finden. In den Theologen und Predigern von dem
Geiste Beyschlags lebte die Ahnung, daß die evangelische Kirche vor geradezu
ungeheuren Aufgaben gestellt sei, von denen ein sehr großer Teil ihrer Ver¬
treter nichts ahnte. Die wirklichen Errungenschaften der neuern Theologie
der Gemeinde zugänglich zu machen, die kirchliche Bildung der bevorzugten
Stände auf die Höhe ihrer weltlichen Bildung zu bringen, dazu die Wahrung
des deutschen Protestantismus gegen die römische und romanisirende Propa¬
ganda, die in jenen Jahrzehnten ihre ersten großen Siege auf deutschem Boden
errang, alles waren Pflichten und Ziele der Kirche selbst und konnten doch
den bescheidensten ihrer Prediger und Lehrer nicht erspart bleiben. In Bey¬
schlags Erinnerungen spiegelt sich daher neben denn persönlichen ein gewaltiges
Stück allgemeines Leben.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/335>, abgerufen am 08.01.2025.