Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Willibald Beyschlags Lebenserinnerungen Den Umsturz des Jahres 1848 erlebte der Verfasser noch als Frankfurter Nicht vor der demokratisch-antipreußischen Entrüstung, aber aus bessern Ein ardens-, ein Segens-, ein eindrucks- und genußreiches Leben -- das Willibald Beyschlags Lebenserinnerungen Den Umsturz des Jahres 1848 erlebte der Verfasser noch als Frankfurter Nicht vor der demokratisch-antipreußischen Entrüstung, aber aus bessern Ein ardens-, ein Segens-, ein eindrucks- und genußreiches Leben — das <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0336" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223920"/> <fw type="header" place="top"> Willibald Beyschlags Lebenserinnerungen</fw><lb/> <p xml:id="ID_1022"> Den Umsturz des Jahres 1848 erlebte der Verfasser noch als Frankfurter<lb/> Kandidat, und da durch die deutsche Nationalversammlung Beyschlags Vater¬<lb/> stadt damals ein Mittelpunkt der Vorgänge wurde, fühlte sich der junge Mann<lb/> von der Sturmflut der Zeit unmittelbar umbraust. Seine politische Überzeugung<lb/> war mit der kirchlichen zugleich gegeben, er glaubte an Preußens Beruf zur<lb/> Einigung Deutschlands, hatte schon im April 1848 den Mut, in Gemeinsam¬<lb/> keit mit seinem Bruder Franz, der ueben Wolters mehr und mehr sein Herzens¬<lb/> vertrauter und Geistesgenosse geworden war, eine kleine Schrift drucken zu<lb/> lassen, die diese Überzeugung aussprach. „Die bescheidne Wirkung war natürlich<lb/> eine sehr verschiedne. Einige drückten mir im Stillen die Hand, hielten es<lb/> aber für klüger zu schweigen. Von andrer Seite verlautete »allgemeine Ent¬<lb/> rüstung« und der gute Rat, baldmöglichst die Stadt zu verlassen, in der ich<lb/> mir alle Zukunft abgeschnitten Hütte. Es war auch die Rede davon, mir die<lb/> Fenster einzuwerfen, was eine damals beliebte Form der Kritik war, aber bei<lb/> meinen Mansardenfcnstern im dritten Stock und in schmaler Gasse schwer aus¬<lb/> zuführen gewesen wäre. Es ist mir kein Leid geschehen, aber natürlich ver¬<lb/> hallte unsre schwache Stimme im Sturm."</p><lb/> <p xml:id="ID_1023"> Nicht vor der demokratisch-antipreußischen Entrüstung, aber aus bessern<lb/> Gründen verließ Willibald Beyschlag im nächsten Jahre die Vaterstadt. Die<lb/> Sehnsucht nach einem wirklichen Lebensberuf war gerade in der Sturmzeit von<lb/> 1848 auf 1849 gewachsen, die „halbe und zerstückle Thätigkeit eines Privat¬<lb/> stundengebers und Gelegenheitspredigers" konnte dem Sechsundzwanzigjährigcn<lb/> nicht mehr genügen. Für den von ihm gewünschten Übergang aus der Frank¬<lb/> furter in die rheinpreußische Kandidatur schienen sich anfänglich wenig Aussichten<lb/> zu eröffnen, doch gelang es dem jungen Theologen noch vor Ende des Jahres<lb/> 1849 einen Ruf nach Andernach zu erhalten, in Koblenz das dazu erforder¬<lb/> liche dritte theologische Examen mit „sehr gut" zu bestehen und die bescheidne<lb/> Andernacher Predigerstelle bald mit einem Vikariat in Koblenz selbst zu ver¬<lb/> tauschen. Mit der Schilderung seiner geistlichen Thätigkeit am Rhein beginnt<lb/> der zweite Teil seines Lebens und seiner Lebenserinnerungen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1024" next="#ID_1025"> Ein ardens-, ein Segens-, ein eindrucks- und genußreiches Leben — das<lb/> Wort Genuß hier im höchsten geistigen Sinne genommen — ging dein Ver¬<lb/> fasser in den folgenden Jahren ans. „Daß mit dem Dahinsinkcn unsrer vater¬<lb/> ländischen Hoffnungen (nach 1850) auch unsre Hoffnung auf eine gedeihliche<lb/> Gestaltung der evangelischen Kirche zerrinnen werde, ahnten wir nur von fern.<lb/> Noch hielten wir die in der preußischen Verfassungsurkunde gegebne Zusiche-<lb/> rung einer Selbständigkeit der evangelischen Kirche für ernstlich, ehrlich. Aber<lb/> schon machten uns die bekümmerten Äußerungen der besten kirchlichen Männer<lb/> bang." Alle die dunkeln Wolken, die wieder heraufzogen, sollte der junge<lb/> Pfarrer erst über sich lasten fühlen, als er sein Koblenzer Vikariat mit der<lb/> Stellung eines Predigers bei der evangelischen Gemeinde zu Trier vertauschte,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0336]
Willibald Beyschlags Lebenserinnerungen
Den Umsturz des Jahres 1848 erlebte der Verfasser noch als Frankfurter
Kandidat, und da durch die deutsche Nationalversammlung Beyschlags Vater¬
stadt damals ein Mittelpunkt der Vorgänge wurde, fühlte sich der junge Mann
von der Sturmflut der Zeit unmittelbar umbraust. Seine politische Überzeugung
war mit der kirchlichen zugleich gegeben, er glaubte an Preußens Beruf zur
Einigung Deutschlands, hatte schon im April 1848 den Mut, in Gemeinsam¬
keit mit seinem Bruder Franz, der ueben Wolters mehr und mehr sein Herzens¬
vertrauter und Geistesgenosse geworden war, eine kleine Schrift drucken zu
lassen, die diese Überzeugung aussprach. „Die bescheidne Wirkung war natürlich
eine sehr verschiedne. Einige drückten mir im Stillen die Hand, hielten es
aber für klüger zu schweigen. Von andrer Seite verlautete »allgemeine Ent¬
rüstung« und der gute Rat, baldmöglichst die Stadt zu verlassen, in der ich
mir alle Zukunft abgeschnitten Hütte. Es war auch die Rede davon, mir die
Fenster einzuwerfen, was eine damals beliebte Form der Kritik war, aber bei
meinen Mansardenfcnstern im dritten Stock und in schmaler Gasse schwer aus¬
zuführen gewesen wäre. Es ist mir kein Leid geschehen, aber natürlich ver¬
hallte unsre schwache Stimme im Sturm."
Nicht vor der demokratisch-antipreußischen Entrüstung, aber aus bessern
Gründen verließ Willibald Beyschlag im nächsten Jahre die Vaterstadt. Die
Sehnsucht nach einem wirklichen Lebensberuf war gerade in der Sturmzeit von
1848 auf 1849 gewachsen, die „halbe und zerstückle Thätigkeit eines Privat¬
stundengebers und Gelegenheitspredigers" konnte dem Sechsundzwanzigjährigcn
nicht mehr genügen. Für den von ihm gewünschten Übergang aus der Frank¬
furter in die rheinpreußische Kandidatur schienen sich anfänglich wenig Aussichten
zu eröffnen, doch gelang es dem jungen Theologen noch vor Ende des Jahres
1849 einen Ruf nach Andernach zu erhalten, in Koblenz das dazu erforder¬
liche dritte theologische Examen mit „sehr gut" zu bestehen und die bescheidne
Andernacher Predigerstelle bald mit einem Vikariat in Koblenz selbst zu ver¬
tauschen. Mit der Schilderung seiner geistlichen Thätigkeit am Rhein beginnt
der zweite Teil seines Lebens und seiner Lebenserinnerungen.
Ein ardens-, ein Segens-, ein eindrucks- und genußreiches Leben — das
Wort Genuß hier im höchsten geistigen Sinne genommen — ging dein Ver¬
fasser in den folgenden Jahren ans. „Daß mit dem Dahinsinkcn unsrer vater¬
ländischen Hoffnungen (nach 1850) auch unsre Hoffnung auf eine gedeihliche
Gestaltung der evangelischen Kirche zerrinnen werde, ahnten wir nur von fern.
Noch hielten wir die in der preußischen Verfassungsurkunde gegebne Zusiche-
rung einer Selbständigkeit der evangelischen Kirche für ernstlich, ehrlich. Aber
schon machten uns die bekümmerten Äußerungen der besten kirchlichen Männer
bang." Alle die dunkeln Wolken, die wieder heraufzogen, sollte der junge
Pfarrer erst über sich lasten fühlen, als er sein Koblenzer Vikariat mit der
Stellung eines Predigers bei der evangelischen Gemeinde zu Trier vertauschte,
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