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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

sie wegen ihrer angeblich besser geschulten Logik zu einer bessern Beweis-
würdiguug für geeignet hält.

Die Gegner des Lniensprnchs in der Strafrechtspflege haben in ihrer
Rüstkammer noch eine Waffe, die ein sehr gefährliches Ansehen hat, zur Zeit
aber stumpf geworden ist und nichts mehr nnsznrichtcn vermag. Der Laie
soll zu sehr in seinen politischen und sozialen Vorurteilen befangen sein, als
daß er, sobald diese irgendwie sein Urteil beeinflussen können, zu einem ge¬
rechten Spruch befähigt wäre. Dieser Vorwurf laßt sich ebensowenig wie die
theoretische Möglichkeit der Fehlsprüche allgemein und rundweg ableugnen, er
ist aber kein zureichender Grund für Beseitigung des Laienspruchs, solange nicht
der Nachweis geführt wird, daß die Berufsjustiz über solche Vorurteile er¬
habner als die Laienwelt ist. Wer sich der Hexenprozesse und ähnlicher bis
in die Zeiten Voltaires häufiger Vorkommnisse in der sogenannten Rechtspflege
erinnert, dem kann es recht zweifelhaft werden, ob sich die Berufsjustiz jemals
über die Vorurteile ihrer Zeit auch nur einigermaßen zu erheben verstanden
hat. Ihr aber heute bei uns ein unbefangneres Urteil zuzutrauen als der
Laienwelt, muß selbst unter die politischen und sozialen Vorurteile gerechnet
werden. Unser Bürger- und Bauernstand, der mit den Namen seiner Mit¬
glieder die Geschwvruenlisten füllt, dessen Vertreter in überwiegender Mehrzahl
die Geschwornenbank bilden, sehen in den Sozialdemokraten ihre verhaßtesten
politischen Feinde, und doch ist es ein gewissenloses Parteibestreben, jeden gegen
Sozialdemokraten ausgesprochnen Fehlspruch der Geschwornen auf politische
Gegnerschaft zurückzuführen. Gerade der sozialistischen Presse ist es genehm, die
ihr feindlichen' bürgerlichen Stände bei jeder Gelegenheit zu verdächtigen, und
sie benutzt dazu jeden einzelnen gegen Sozialdemokraten ergangnen Fehlspruch,
während sie übersieht, daß sich ohne Schwierigkeit eine Fülle ähnlicher Fehl¬
sprüche nachweisen läßt, bei denen politische Beweggründe vollständig aus¬
geschlossen sind. Die Veranlassung solcher Fehlsprüche sind gewöhnlich nur die
Mängel unsrer strafrechtlichen Beiveiswürdigung, Mängel, für die durchaus
nicht gerade die Geschwornen die Hauptverantwortung tragen, und die sich in
allen gleichartigen Prozessen, auch wenn kein Sozialdemokrnt auf der Anklage¬
bank sitzt, ebenso fühlbar machen. Zur grellen Beleuchtung sowohl dieser
Mängel als auch der falschen Verdächtigung der Geschwornen mag ein Fehl¬
spruch näher besprochen werden, der im vorigen Jahre im Vordergründe des
Interesses stand und noch heute die Gemüter bewegt. Wir meinen den Meineids¬
prozeß gegen Schröder und Genossen, der sich 1895 in Essen abspielte und
mit der Verurteilung der Hanptangeklagten zu mehrjährigen Zuchthausstrafen
endete. Schröder, ein sozialdemokratischer Führer, hatte sich mit einer Anzahl
Genossen in eine christliche Arbciterversammlung eingedrängt. Die Sozicil-
dcmvkraten wurden hinausgewiesen und forderten an der Kasse ihr Eintritts¬
geld zurück. Ju der Nähe der Kasse will Schröder von einem Gendarm zu
Boden gestoßen worden sein. Dies ist von ihm und seinen Genossen unter


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

sie wegen ihrer angeblich besser geschulten Logik zu einer bessern Beweis-
würdiguug für geeignet hält.

Die Gegner des Lniensprnchs in der Strafrechtspflege haben in ihrer
Rüstkammer noch eine Waffe, die ein sehr gefährliches Ansehen hat, zur Zeit
aber stumpf geworden ist und nichts mehr nnsznrichtcn vermag. Der Laie
soll zu sehr in seinen politischen und sozialen Vorurteilen befangen sein, als
daß er, sobald diese irgendwie sein Urteil beeinflussen können, zu einem ge¬
rechten Spruch befähigt wäre. Dieser Vorwurf laßt sich ebensowenig wie die
theoretische Möglichkeit der Fehlsprüche allgemein und rundweg ableugnen, er
ist aber kein zureichender Grund für Beseitigung des Laienspruchs, solange nicht
der Nachweis geführt wird, daß die Berufsjustiz über solche Vorurteile er¬
habner als die Laienwelt ist. Wer sich der Hexenprozesse und ähnlicher bis
in die Zeiten Voltaires häufiger Vorkommnisse in der sogenannten Rechtspflege
erinnert, dem kann es recht zweifelhaft werden, ob sich die Berufsjustiz jemals
über die Vorurteile ihrer Zeit auch nur einigermaßen zu erheben verstanden
hat. Ihr aber heute bei uns ein unbefangneres Urteil zuzutrauen als der
Laienwelt, muß selbst unter die politischen und sozialen Vorurteile gerechnet
werden. Unser Bürger- und Bauernstand, der mit den Namen seiner Mit¬
glieder die Geschwvruenlisten füllt, dessen Vertreter in überwiegender Mehrzahl
die Geschwornenbank bilden, sehen in den Sozialdemokraten ihre verhaßtesten
politischen Feinde, und doch ist es ein gewissenloses Parteibestreben, jeden gegen
Sozialdemokraten ausgesprochnen Fehlspruch der Geschwornen auf politische
Gegnerschaft zurückzuführen. Gerade der sozialistischen Presse ist es genehm, die
ihr feindlichen' bürgerlichen Stände bei jeder Gelegenheit zu verdächtigen, und
sie benutzt dazu jeden einzelnen gegen Sozialdemokraten ergangnen Fehlspruch,
während sie übersieht, daß sich ohne Schwierigkeit eine Fülle ähnlicher Fehl¬
sprüche nachweisen läßt, bei denen politische Beweggründe vollständig aus¬
geschlossen sind. Die Veranlassung solcher Fehlsprüche sind gewöhnlich nur die
Mängel unsrer strafrechtlichen Beiveiswürdigung, Mängel, für die durchaus
nicht gerade die Geschwornen die Hauptverantwortung tragen, und die sich in
allen gleichartigen Prozessen, auch wenn kein Sozialdemokrnt auf der Anklage¬
bank sitzt, ebenso fühlbar machen. Zur grellen Beleuchtung sowohl dieser
Mängel als auch der falschen Verdächtigung der Geschwornen mag ein Fehl¬
spruch näher besprochen werden, der im vorigen Jahre im Vordergründe des
Interesses stand und noch heute die Gemüter bewegt. Wir meinen den Meineids¬
prozeß gegen Schröder und Genossen, der sich 1895 in Essen abspielte und
mit der Verurteilung der Hanptangeklagten zu mehrjährigen Zuchthausstrafen
endete. Schröder, ein sozialdemokratischer Führer, hatte sich mit einer Anzahl
Genossen in eine christliche Arbciterversammlung eingedrängt. Die Sozicil-
dcmvkraten wurden hinausgewiesen und forderten an der Kasse ihr Eintritts¬
geld zurück. Ju der Nähe der Kasse will Schröder von einem Gendarm zu
Boden gestoßen worden sein. Dies ist von ihm und seinen Genossen unter


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[0319] Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg sie wegen ihrer angeblich besser geschulten Logik zu einer bessern Beweis- würdiguug für geeignet hält. Die Gegner des Lniensprnchs in der Strafrechtspflege haben in ihrer Rüstkammer noch eine Waffe, die ein sehr gefährliches Ansehen hat, zur Zeit aber stumpf geworden ist und nichts mehr nnsznrichtcn vermag. Der Laie soll zu sehr in seinen politischen und sozialen Vorurteilen befangen sein, als daß er, sobald diese irgendwie sein Urteil beeinflussen können, zu einem ge¬ rechten Spruch befähigt wäre. Dieser Vorwurf laßt sich ebensowenig wie die theoretische Möglichkeit der Fehlsprüche allgemein und rundweg ableugnen, er ist aber kein zureichender Grund für Beseitigung des Laienspruchs, solange nicht der Nachweis geführt wird, daß die Berufsjustiz über solche Vorurteile er¬ habner als die Laienwelt ist. Wer sich der Hexenprozesse und ähnlicher bis in die Zeiten Voltaires häufiger Vorkommnisse in der sogenannten Rechtspflege erinnert, dem kann es recht zweifelhaft werden, ob sich die Berufsjustiz jemals über die Vorurteile ihrer Zeit auch nur einigermaßen zu erheben verstanden hat. Ihr aber heute bei uns ein unbefangneres Urteil zuzutrauen als der Laienwelt, muß selbst unter die politischen und sozialen Vorurteile gerechnet werden. Unser Bürger- und Bauernstand, der mit den Namen seiner Mit¬ glieder die Geschwvruenlisten füllt, dessen Vertreter in überwiegender Mehrzahl die Geschwornenbank bilden, sehen in den Sozialdemokraten ihre verhaßtesten politischen Feinde, und doch ist es ein gewissenloses Parteibestreben, jeden gegen Sozialdemokraten ausgesprochnen Fehlspruch der Geschwornen auf politische Gegnerschaft zurückzuführen. Gerade der sozialistischen Presse ist es genehm, die ihr feindlichen' bürgerlichen Stände bei jeder Gelegenheit zu verdächtigen, und sie benutzt dazu jeden einzelnen gegen Sozialdemokraten ergangnen Fehlspruch, während sie übersieht, daß sich ohne Schwierigkeit eine Fülle ähnlicher Fehl¬ sprüche nachweisen läßt, bei denen politische Beweggründe vollständig aus¬ geschlossen sind. Die Veranlassung solcher Fehlsprüche sind gewöhnlich nur die Mängel unsrer strafrechtlichen Beiveiswürdigung, Mängel, für die durchaus nicht gerade die Geschwornen die Hauptverantwortung tragen, und die sich in allen gleichartigen Prozessen, auch wenn kein Sozialdemokrnt auf der Anklage¬ bank sitzt, ebenso fühlbar machen. Zur grellen Beleuchtung sowohl dieser Mängel als auch der falschen Verdächtigung der Geschwornen mag ein Fehl¬ spruch näher besprochen werden, der im vorigen Jahre im Vordergründe des Interesses stand und noch heute die Gemüter bewegt. Wir meinen den Meineids¬ prozeß gegen Schröder und Genossen, der sich 1895 in Essen abspielte und mit der Verurteilung der Hanptangeklagten zu mehrjährigen Zuchthausstrafen endete. Schröder, ein sozialdemokratischer Führer, hatte sich mit einer Anzahl Genossen in eine christliche Arbciterversammlung eingedrängt. Die Sozicil- dcmvkraten wurden hinausgewiesen und forderten an der Kasse ihr Eintritts¬ geld zurück. Ju der Nähe der Kasse will Schröder von einem Gendarm zu Boden gestoßen worden sein. Dies ist von ihm und seinen Genossen unter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/319>, abgerufen am 08.01.2025.