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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

überführt erachtet zu werden, so ist das Bestehen des Staates gefährdet. Die
menschliche Beweiswürdigung ist oft schon bei den in der Außenwelt zur Er¬
scheinung kommenden Vorgängen nicht über jeden Zweifel erhaben, noch viel
unzuverlässiger aber ist sie bei dem innern Vorgänge des bösen Willens, durch
den eine That erst zu einer strafbaren gestempelt wird. Wenn jemand z. B.
eine Sache heimlich wegnimmt, so kann die Feststellung, daß er es in der
Absicht gethan habe, sie sich rechtswidrig anzueignen, schon auf große Schwierig¬
keiten stoßen, und doch ist diese Feststellung notwendig, um die Wegnahme als
Diebstahl zu kennzeichnen. Bei dem wissentlichen Meineide muß nicht nur,
was häufig schon schwierig genug ist, die objektive Unwahrheit des Beschmornen
nachgewiesen werden, sondern auch der innere Vorgang, daß sich der Schwörende
dieser Unwahrheit bewußt gewesen ist. Bei diesen innern Vorgängen, von
denen sich objektiv niemals nachweisen läßt, wie sie in Wirklichkeit verlaufen
sind, ist der Richter am ehesten dem Irrtum ausgesetzt, ohne daß die Sonne
jemals die Wahrheit an den Tag bringen kann. Besser aber ist es, das Un¬
vermeidliche anzuerkennen und sich darnach einzurichten, als es einfach zu
leugnen. Wir wissen, daß die Meinungen der Menschen auch bei der Veweis-
würdignng häufig auseinandergehen. Das hat seiue volle Berechtigung, denn
die Beweiswürdigung ist eine Beurteilung, die keine mathematische Zuver¬
lässigkeit beanspruchen kaun, der anch meistens kein allgemein giltiger Erfah¬
rungssatz zur Seite steht. Im allgemeinen liegt also in der theoretischen Mög¬
lichkeit des Irrtums die Erklärung dafür, daß Meinungsverschiedenheiten auch
bei der Beweiswürdiguug unvermeidlich sind. Die Engländer suchen der Un¬
sicherheit der Meinungsverschiedenheit dadurch zu begegnen, daß sie Einhellig¬
keit des Geschwornenspruchs fordern. Im Grunde genommen beseitigen sie
aber dadurch nicht die Meinungsverschiedenheit, sondern nur deu Widerstand der
einen Meinung gegen die andre; auch bei ihnen bleibt der Urteilsspruch mit der
theoretischen Möglichkeit des Irrtums behaftet. Man muß sich eingestehen, daß
uicht alle Verurteilte", die später unschuldig befunden werden, wirklich unschuldig
sind, und nicht alle, deren Unschuld auch später nicht nachweisbar ist, wirklich
schuldig sind. Wer mit Schiller sagen will: Die Weltgeschichte ist das Welt¬
gericht, der vergesse nicht hinzuzufügen: aber ein mitunter recht ungerechtes.
Den Unglücklichen, die ihre Unschuld durch keine Zeugen, durch keine sonstigen
Thatsachen jemals beweise" können, ist auch mit einer Häufung der Instanzen
sicherlich nicht geholfen, mir von der Heranziehung der Richter mit ihrem
vollen Verantwortlichkeitsgefühl wird sich hoffen lassen, daß sich die theoretische
Möglichkeit der Fehlsprüche praktisch nicht verwirklicht. In der Kunst der
Beweiswürdiguug fehlt es aber, wie mau sieht, nicht nur an den ersten An¬
sängen einer wissenschaftlichen Lehre, sondern, was noch viel bedauerlicher ist,
die wenigen Grundsätze, die als solche Lehre ausgegeben werden, sind un¬
brauchbar und heuchlerisch. Die Berufsjustiz, der es an Fähigkeit oder Mut
gebrach, diese Mängel aufzudecken, darf nicht für sich beanspruchen, daß man


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

überführt erachtet zu werden, so ist das Bestehen des Staates gefährdet. Die
menschliche Beweiswürdigung ist oft schon bei den in der Außenwelt zur Er¬
scheinung kommenden Vorgängen nicht über jeden Zweifel erhaben, noch viel
unzuverlässiger aber ist sie bei dem innern Vorgänge des bösen Willens, durch
den eine That erst zu einer strafbaren gestempelt wird. Wenn jemand z. B.
eine Sache heimlich wegnimmt, so kann die Feststellung, daß er es in der
Absicht gethan habe, sie sich rechtswidrig anzueignen, schon auf große Schwierig¬
keiten stoßen, und doch ist diese Feststellung notwendig, um die Wegnahme als
Diebstahl zu kennzeichnen. Bei dem wissentlichen Meineide muß nicht nur,
was häufig schon schwierig genug ist, die objektive Unwahrheit des Beschmornen
nachgewiesen werden, sondern auch der innere Vorgang, daß sich der Schwörende
dieser Unwahrheit bewußt gewesen ist. Bei diesen innern Vorgängen, von
denen sich objektiv niemals nachweisen läßt, wie sie in Wirklichkeit verlaufen
sind, ist der Richter am ehesten dem Irrtum ausgesetzt, ohne daß die Sonne
jemals die Wahrheit an den Tag bringen kann. Besser aber ist es, das Un¬
vermeidliche anzuerkennen und sich darnach einzurichten, als es einfach zu
leugnen. Wir wissen, daß die Meinungen der Menschen auch bei der Veweis-
würdignng häufig auseinandergehen. Das hat seiue volle Berechtigung, denn
die Beweiswürdigung ist eine Beurteilung, die keine mathematische Zuver¬
lässigkeit beanspruchen kaun, der anch meistens kein allgemein giltiger Erfah¬
rungssatz zur Seite steht. Im allgemeinen liegt also in der theoretischen Mög¬
lichkeit des Irrtums die Erklärung dafür, daß Meinungsverschiedenheiten auch
bei der Beweiswürdiguug unvermeidlich sind. Die Engländer suchen der Un¬
sicherheit der Meinungsverschiedenheit dadurch zu begegnen, daß sie Einhellig¬
keit des Geschwornenspruchs fordern. Im Grunde genommen beseitigen sie
aber dadurch nicht die Meinungsverschiedenheit, sondern nur deu Widerstand der
einen Meinung gegen die andre; auch bei ihnen bleibt der Urteilsspruch mit der
theoretischen Möglichkeit des Irrtums behaftet. Man muß sich eingestehen, daß
uicht alle Verurteilte», die später unschuldig befunden werden, wirklich unschuldig
sind, und nicht alle, deren Unschuld auch später nicht nachweisbar ist, wirklich
schuldig sind. Wer mit Schiller sagen will: Die Weltgeschichte ist das Welt¬
gericht, der vergesse nicht hinzuzufügen: aber ein mitunter recht ungerechtes.
Den Unglücklichen, die ihre Unschuld durch keine Zeugen, durch keine sonstigen
Thatsachen jemals beweise» können, ist auch mit einer Häufung der Instanzen
sicherlich nicht geholfen, mir von der Heranziehung der Richter mit ihrem
vollen Verantwortlichkeitsgefühl wird sich hoffen lassen, daß sich die theoretische
Möglichkeit der Fehlsprüche praktisch nicht verwirklicht. In der Kunst der
Beweiswürdiguug fehlt es aber, wie mau sieht, nicht nur an den ersten An¬
sängen einer wissenschaftlichen Lehre, sondern, was noch viel bedauerlicher ist,
die wenigen Grundsätze, die als solche Lehre ausgegeben werden, sind un¬
brauchbar und heuchlerisch. Die Berufsjustiz, der es an Fähigkeit oder Mut
gebrach, diese Mängel aufzudecken, darf nicht für sich beanspruchen, daß man


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/318>, abgerufen am 08.01.2025.