Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

dem Zeugeneide behauptet worden, und sie wurden deshalb des Meineids
schuldig befunden. Unbestritten ist Schröder zu Falle gekommen, und ebenso
unbestritten hat ihn der Gendarm, der energisch gegen die Eindringlinge auf¬
treten mußte, zum mindesten körperlich berührt gehabt. Die Sache wird so
zugespitzt, daß die öffentliche Meinung heute in zwei Heerlager geteilt ist, von
denen das eine die Überzeugung hat, der Gendarm habe Schröder" wirklich
zu Falle gebracht, das andre daran festhält, der Fall Schröters stehe in keinem
ursächlichen Zusammenhange zu der ihm von dem Gendarm widerfahrnen
körperlichen Berührung. Der wahre Thatbestand wird sich hier wie in vielen
andern Fällen niemals bis zur vollen Zweifellosigkeit aufklären lassen, es zeigt
aber, wie schlecht es bei uns noch mit der Seelenkunde bestellt ist, daß man
von dem wahren Thatbestande die Frage abhängig machen will, ob auf Seiten
der Sozialdemokraten oder auf der Gegenseite ein Meineid geleistet worden sei.
Hätte ein Zeuge schon dann einen Meineid begangen, wenn seine Aussage der
objektiven Wahrheit nicht entspricht, so müßten bei widersprechenden Zeugen¬
aussagen stets Meineide vorliegen. Es giebt aber keine größere Strafsache,
namentlich keine solche, bei der die menschliche Erregung irgendwie im Spiele
ist, in der sich nicht eine Anzahl von Widersprüchen unter den Zeugenaussagen
herausstellte. Der Richter, der der Aussage des einen Zeugen vor der des
andern den Vorzug giebt, hat dadurch diesen noch nicht zu einem meineidiger
Schurken gestempelt. Jede Wahrnehmung leidet unter der Voreingenommen¬
heit, mit der man an sie herantritt. Der Wunsch ist oft der Vater des Ge¬
dankens, oft mich der Vater der Wahrnehmung. Der Wahrnehmende ist meist
Partei, und nur ganz außergewöhnlich zuverlässige Naturen werden unbeein¬
flußt von Gemütsbewegungen die Thatsachen gerade so wahrnehmen, wie sie
sich zutragen. Wer hat es nicht schon an sich selbst erfahren, daß er sich bei
mancher Wahrnehmung eben da geirrt hat, wo nach seiner festen Überzeugung
jeder Irrtum hätte müssen ausgeschlossen sein? Wer hätte es noch nicht er¬
lebt, daß gereifte Männer über dieselbe Wahrnehmung verschiedner Ansicht sind
und uur deshalb Anstand nehmen, ihre Meinungsverschiedenheit durch eine
Wette auszutragen, weil jeder von ihnen die Überzeugung hat, daß er sich
nicht irren könne und den richtigen Thatbestand genau wisse? So hat es auch
jeder erfahren, daß Angaben über Wahrnehmungen, die unter Gemütserreguugen
selbst von bedächtigen, wahrheitsliebenden und gebildeten Menschen gemacht
worden sind, nicht zuverlässig waren. Ist also die Wahrnehmung selbst oft
getrübt, so kann auch die Erinnerung an sie nicht klarer sein. Zurückliegende
Ereignisse verfallen sehr schnell der Vergessenheit, wenn sie nicht in den.
Spiegelbilde der Erinnerung festgehalten werden, einem Spiegelbilde, das mit
jeder Erneuerung dem geistigen Auge immer ferner rückt, so daß allmählich
nur die allgemeinen Umrisse sichtbar bleiben, bis endlich auch diese erblassen.
Das Bild jeder wiederkehrenden Erinnerung wird nicht von dem Vorgange
selbst, sondern von der Erinnerung an ihn entnommen, und das erste Spiegel-


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

dem Zeugeneide behauptet worden, und sie wurden deshalb des Meineids
schuldig befunden. Unbestritten ist Schröder zu Falle gekommen, und ebenso
unbestritten hat ihn der Gendarm, der energisch gegen die Eindringlinge auf¬
treten mußte, zum mindesten körperlich berührt gehabt. Die Sache wird so
zugespitzt, daß die öffentliche Meinung heute in zwei Heerlager geteilt ist, von
denen das eine die Überzeugung hat, der Gendarm habe Schröder» wirklich
zu Falle gebracht, das andre daran festhält, der Fall Schröters stehe in keinem
ursächlichen Zusammenhange zu der ihm von dem Gendarm widerfahrnen
körperlichen Berührung. Der wahre Thatbestand wird sich hier wie in vielen
andern Fällen niemals bis zur vollen Zweifellosigkeit aufklären lassen, es zeigt
aber, wie schlecht es bei uns noch mit der Seelenkunde bestellt ist, daß man
von dem wahren Thatbestande die Frage abhängig machen will, ob auf Seiten
der Sozialdemokraten oder auf der Gegenseite ein Meineid geleistet worden sei.
Hätte ein Zeuge schon dann einen Meineid begangen, wenn seine Aussage der
objektiven Wahrheit nicht entspricht, so müßten bei widersprechenden Zeugen¬
aussagen stets Meineide vorliegen. Es giebt aber keine größere Strafsache,
namentlich keine solche, bei der die menschliche Erregung irgendwie im Spiele
ist, in der sich nicht eine Anzahl von Widersprüchen unter den Zeugenaussagen
herausstellte. Der Richter, der der Aussage des einen Zeugen vor der des
andern den Vorzug giebt, hat dadurch diesen noch nicht zu einem meineidiger
Schurken gestempelt. Jede Wahrnehmung leidet unter der Voreingenommen¬
heit, mit der man an sie herantritt. Der Wunsch ist oft der Vater des Ge¬
dankens, oft mich der Vater der Wahrnehmung. Der Wahrnehmende ist meist
Partei, und nur ganz außergewöhnlich zuverlässige Naturen werden unbeein¬
flußt von Gemütsbewegungen die Thatsachen gerade so wahrnehmen, wie sie
sich zutragen. Wer hat es nicht schon an sich selbst erfahren, daß er sich bei
mancher Wahrnehmung eben da geirrt hat, wo nach seiner festen Überzeugung
jeder Irrtum hätte müssen ausgeschlossen sein? Wer hätte es noch nicht er¬
lebt, daß gereifte Männer über dieselbe Wahrnehmung verschiedner Ansicht sind
und uur deshalb Anstand nehmen, ihre Meinungsverschiedenheit durch eine
Wette auszutragen, weil jeder von ihnen die Überzeugung hat, daß er sich
nicht irren könne und den richtigen Thatbestand genau wisse? So hat es auch
jeder erfahren, daß Angaben über Wahrnehmungen, die unter Gemütserreguugen
selbst von bedächtigen, wahrheitsliebenden und gebildeten Menschen gemacht
worden sind, nicht zuverlässig waren. Ist also die Wahrnehmung selbst oft
getrübt, so kann auch die Erinnerung an sie nicht klarer sein. Zurückliegende
Ereignisse verfallen sehr schnell der Vergessenheit, wenn sie nicht in den.
Spiegelbilde der Erinnerung festgehalten werden, einem Spiegelbilde, das mit
jeder Erneuerung dem geistigen Auge immer ferner rückt, so daß allmählich
nur die allgemeinen Umrisse sichtbar bleiben, bis endlich auch diese erblassen.
Das Bild jeder wiederkehrenden Erinnerung wird nicht von dem Vorgange
selbst, sondern von der Erinnerung an ihn entnommen, und das erste Spiegel-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0320" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223904"/>
          <fw type="header" place="top"> Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_975" prev="#ID_974" next="#ID_976"> dem Zeugeneide behauptet worden, und sie wurden deshalb des Meineids<lb/>
schuldig befunden. Unbestritten ist Schröder zu Falle gekommen, und ebenso<lb/>
unbestritten hat ihn der Gendarm, der energisch gegen die Eindringlinge auf¬<lb/>
treten mußte, zum mindesten körperlich berührt gehabt. Die Sache wird so<lb/>
zugespitzt, daß die öffentliche Meinung heute in zwei Heerlager geteilt ist, von<lb/>
denen das eine die Überzeugung hat, der Gendarm habe Schröder» wirklich<lb/>
zu Falle gebracht, das andre daran festhält, der Fall Schröters stehe in keinem<lb/>
ursächlichen Zusammenhange zu der ihm von dem Gendarm widerfahrnen<lb/>
körperlichen Berührung. Der wahre Thatbestand wird sich hier wie in vielen<lb/>
andern Fällen niemals bis zur vollen Zweifellosigkeit aufklären lassen, es zeigt<lb/>
aber, wie schlecht es bei uns noch mit der Seelenkunde bestellt ist, daß man<lb/>
von dem wahren Thatbestande die Frage abhängig machen will, ob auf Seiten<lb/>
der Sozialdemokraten oder auf der Gegenseite ein Meineid geleistet worden sei.<lb/>
Hätte ein Zeuge schon dann einen Meineid begangen, wenn seine Aussage der<lb/>
objektiven Wahrheit nicht entspricht, so müßten bei widersprechenden Zeugen¬<lb/>
aussagen stets Meineide vorliegen. Es giebt aber keine größere Strafsache,<lb/>
namentlich keine solche, bei der die menschliche Erregung irgendwie im Spiele<lb/>
ist, in der sich nicht eine Anzahl von Widersprüchen unter den Zeugenaussagen<lb/>
herausstellte. Der Richter, der der Aussage des einen Zeugen vor der des<lb/>
andern den Vorzug giebt, hat dadurch diesen noch nicht zu einem meineidiger<lb/>
Schurken gestempelt. Jede Wahrnehmung leidet unter der Voreingenommen¬<lb/>
heit, mit der man an sie herantritt. Der Wunsch ist oft der Vater des Ge¬<lb/>
dankens, oft mich der Vater der Wahrnehmung. Der Wahrnehmende ist meist<lb/>
Partei, und nur ganz außergewöhnlich zuverlässige Naturen werden unbeein¬<lb/>
flußt von Gemütsbewegungen die Thatsachen gerade so wahrnehmen, wie sie<lb/>
sich zutragen. Wer hat es nicht schon an sich selbst erfahren, daß er sich bei<lb/>
mancher Wahrnehmung eben da geirrt hat, wo nach seiner festen Überzeugung<lb/>
jeder Irrtum hätte müssen ausgeschlossen sein? Wer hätte es noch nicht er¬<lb/>
lebt, daß gereifte Männer über dieselbe Wahrnehmung verschiedner Ansicht sind<lb/>
und uur deshalb Anstand nehmen, ihre Meinungsverschiedenheit durch eine<lb/>
Wette auszutragen, weil jeder von ihnen die Überzeugung hat, daß er sich<lb/>
nicht irren könne und den richtigen Thatbestand genau wisse? So hat es auch<lb/>
jeder erfahren, daß Angaben über Wahrnehmungen, die unter Gemütserreguugen<lb/>
selbst von bedächtigen, wahrheitsliebenden und gebildeten Menschen gemacht<lb/>
worden sind, nicht zuverlässig waren. Ist also die Wahrnehmung selbst oft<lb/>
getrübt, so kann auch die Erinnerung an sie nicht klarer sein. Zurückliegende<lb/>
Ereignisse verfallen sehr schnell der Vergessenheit, wenn sie nicht in den.<lb/>
Spiegelbilde der Erinnerung festgehalten werden, einem Spiegelbilde, das mit<lb/>
jeder Erneuerung dem geistigen Auge immer ferner rückt, so daß allmählich<lb/>
nur die allgemeinen Umrisse sichtbar bleiben, bis endlich auch diese erblassen.<lb/>
Das Bild jeder wiederkehrenden Erinnerung wird nicht von dem Vorgange<lb/>
selbst, sondern von der Erinnerung an ihn entnommen, und das erste Spiegel-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0320] Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg dem Zeugeneide behauptet worden, und sie wurden deshalb des Meineids schuldig befunden. Unbestritten ist Schröder zu Falle gekommen, und ebenso unbestritten hat ihn der Gendarm, der energisch gegen die Eindringlinge auf¬ treten mußte, zum mindesten körperlich berührt gehabt. Die Sache wird so zugespitzt, daß die öffentliche Meinung heute in zwei Heerlager geteilt ist, von denen das eine die Überzeugung hat, der Gendarm habe Schröder» wirklich zu Falle gebracht, das andre daran festhält, der Fall Schröters stehe in keinem ursächlichen Zusammenhange zu der ihm von dem Gendarm widerfahrnen körperlichen Berührung. Der wahre Thatbestand wird sich hier wie in vielen andern Fällen niemals bis zur vollen Zweifellosigkeit aufklären lassen, es zeigt aber, wie schlecht es bei uns noch mit der Seelenkunde bestellt ist, daß man von dem wahren Thatbestande die Frage abhängig machen will, ob auf Seiten der Sozialdemokraten oder auf der Gegenseite ein Meineid geleistet worden sei. Hätte ein Zeuge schon dann einen Meineid begangen, wenn seine Aussage der objektiven Wahrheit nicht entspricht, so müßten bei widersprechenden Zeugen¬ aussagen stets Meineide vorliegen. Es giebt aber keine größere Strafsache, namentlich keine solche, bei der die menschliche Erregung irgendwie im Spiele ist, in der sich nicht eine Anzahl von Widersprüchen unter den Zeugenaussagen herausstellte. Der Richter, der der Aussage des einen Zeugen vor der des andern den Vorzug giebt, hat dadurch diesen noch nicht zu einem meineidiger Schurken gestempelt. Jede Wahrnehmung leidet unter der Voreingenommen¬ heit, mit der man an sie herantritt. Der Wunsch ist oft der Vater des Ge¬ dankens, oft mich der Vater der Wahrnehmung. Der Wahrnehmende ist meist Partei, und nur ganz außergewöhnlich zuverlässige Naturen werden unbeein¬ flußt von Gemütsbewegungen die Thatsachen gerade so wahrnehmen, wie sie sich zutragen. Wer hat es nicht schon an sich selbst erfahren, daß er sich bei mancher Wahrnehmung eben da geirrt hat, wo nach seiner festen Überzeugung jeder Irrtum hätte müssen ausgeschlossen sein? Wer hätte es noch nicht er¬ lebt, daß gereifte Männer über dieselbe Wahrnehmung verschiedner Ansicht sind und uur deshalb Anstand nehmen, ihre Meinungsverschiedenheit durch eine Wette auszutragen, weil jeder von ihnen die Überzeugung hat, daß er sich nicht irren könne und den richtigen Thatbestand genau wisse? So hat es auch jeder erfahren, daß Angaben über Wahrnehmungen, die unter Gemütserreguugen selbst von bedächtigen, wahrheitsliebenden und gebildeten Menschen gemacht worden sind, nicht zuverlässig waren. Ist also die Wahrnehmung selbst oft getrübt, so kann auch die Erinnerung an sie nicht klarer sein. Zurückliegende Ereignisse verfallen sehr schnell der Vergessenheit, wenn sie nicht in den. Spiegelbilde der Erinnerung festgehalten werden, einem Spiegelbilde, das mit jeder Erneuerung dem geistigen Auge immer ferner rückt, so daß allmählich nur die allgemeinen Umrisse sichtbar bleiben, bis endlich auch diese erblassen. Das Bild jeder wiederkehrenden Erinnerung wird nicht von dem Vorgange selbst, sondern von der Erinnerung an ihn entnommen, und das erste Spiegel-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/320
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/320>, abgerufen am 08.01.2025.