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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Juristische Randbemerkungen zum Fall Aotze

1845 bildete ursprünglich den zweiten Teil des preußischen Militürstrafgesctz-
buchs von demselben Tage, deren erster, inzwischen durch das Militärstrafgesetz-
buch für das deutsche Reich vom 20. Juni 1872 ersetzter Teil das materielle
Strnfrccht umfaßte. § 2 der Einleitung des Militürstrafgesetzs vom 3. April
1845 bestimmt nun ausdrücklich: "Insoweit dieses Strafgesetzbuch . . .
nichts andres vorschreibt, verbleibt es bei den Bedingungen der Landes¬
gesetze." Es kann gar kein Zweifel darüber bestehen, daß diese Vorschrift, die
für das ganze Militärstrafgesetzbuch, also auch für die Gerichtsordnung galt,
für diesen in Kraft gebliebner Teil des Gesetzbuchs auch heute noch gilt. Es
fragt sich also nur, ob die Militärstrafgerichtsordnung Bestimmungen enthält'
die von den oben angeführten tztz 127 und 130 der Strafprozeßordnung ab¬
weichen. Ist das nicht der Fall, so gelten die Vorschriften, die die Straf¬
prozeßordnung über die Zulässigkeit der Verhaftung bei Antragsdelikten enthält,
ohne Zweifel auch für das militärische Gerichtsverfahren. Von der Verhaftung
handeln nur die 99 bis 101 der Militürstrafgcrichtsordnung. In ihnen findet
sich kein Wort und keine Andeutung darüber, ob bei einem Antragsvergehen
die Verhaftung vor Stellung des Strafantrags erfolgen darf oder nicht. Die
Autragsdelikte werden in diesen Paragraphen überhaupt nicht erwähnt.

In dem zweiten Titel Abschnitt 3 der Strafgerichtsordnung § 229 ff.,
der von dein besondern Verfahren bei Beleidigungen handelt, ist von der Zu¬
lässigkeit oder Unzulässigkeit der Verhaftung überhaupt nicht die Rede. Es kaun
also von einem Juristen gar nicht im Ernst bestritten werden, daß die oben
angeführten Bestimmungen der ez§ 127 und 130 der Strafprozeßordnung, nach
denen die vorläufige Festnahme und der Erlaß des Haftbefehls schon vor der
Stellung des Strafantrags erfolgen dürfen, auch auf den vorliegenden Fall
Anwendung finden. Und offenbar ist das Militärgericht nach diesen Be¬
stimmungen verfahren. Da Friedmann die Rechtmäßigkeit der Verhaftung nur
aus diesem einen Grunde bestreitet und damit zweifellos zugesteht, daß deren
übrige gesetzliche Vornnssetznugen vorlagen, so brauche ich auf diese nicht ein¬
zugehen.

Was soll man nun von einem Manne sagen, der selber Jurist ist, der
die Strafprozeßordnung viele Jahre hindurch berufsmäßig gehandhabt hat
und der es, bevor er unbescholtne und pflichttreue Justizbeamte mit höhnischen
Worten der empörendsten Unwissenheit und Rechtsbrüche zeiht, nicht einmal
für der Mühe wert hält, das Gesetzbuch aufzuschlagen und sich daraus mit
einem Blick eines bessern zu belehren? Wenn man bedenkt, daß sich Fried¬
mann mit diesen Fragen während des Prozesses Kotze vielfach und eingehend
beschäftigt haben muß, daß ihm dabei der eben erörterte, gewiß auch jedem
nichtjuristischen Leser vollkommen verständliche Sachverhalt nicht entgangen
sein kann, so wird man kaum die stärksten Zweifel an seinen guten Glauben
unterdrücken können. Und dennoch ist es schwer, zu glauben, daß ein deutscher


Juristische Randbemerkungen zum Fall Aotze

1845 bildete ursprünglich den zweiten Teil des preußischen Militürstrafgesctz-
buchs von demselben Tage, deren erster, inzwischen durch das Militärstrafgesetz-
buch für das deutsche Reich vom 20. Juni 1872 ersetzter Teil das materielle
Strnfrccht umfaßte. § 2 der Einleitung des Militürstrafgesetzs vom 3. April
1845 bestimmt nun ausdrücklich: „Insoweit dieses Strafgesetzbuch . . .
nichts andres vorschreibt, verbleibt es bei den Bedingungen der Landes¬
gesetze." Es kann gar kein Zweifel darüber bestehen, daß diese Vorschrift, die
für das ganze Militärstrafgesetzbuch, also auch für die Gerichtsordnung galt,
für diesen in Kraft gebliebner Teil des Gesetzbuchs auch heute noch gilt. Es
fragt sich also nur, ob die Militärstrafgerichtsordnung Bestimmungen enthält'
die von den oben angeführten tztz 127 und 130 der Strafprozeßordnung ab¬
weichen. Ist das nicht der Fall, so gelten die Vorschriften, die die Straf¬
prozeßordnung über die Zulässigkeit der Verhaftung bei Antragsdelikten enthält,
ohne Zweifel auch für das militärische Gerichtsverfahren. Von der Verhaftung
handeln nur die 99 bis 101 der Militürstrafgcrichtsordnung. In ihnen findet
sich kein Wort und keine Andeutung darüber, ob bei einem Antragsvergehen
die Verhaftung vor Stellung des Strafantrags erfolgen darf oder nicht. Die
Autragsdelikte werden in diesen Paragraphen überhaupt nicht erwähnt.

In dem zweiten Titel Abschnitt 3 der Strafgerichtsordnung § 229 ff.,
der von dein besondern Verfahren bei Beleidigungen handelt, ist von der Zu¬
lässigkeit oder Unzulässigkeit der Verhaftung überhaupt nicht die Rede. Es kaun
also von einem Juristen gar nicht im Ernst bestritten werden, daß die oben
angeführten Bestimmungen der ez§ 127 und 130 der Strafprozeßordnung, nach
denen die vorläufige Festnahme und der Erlaß des Haftbefehls schon vor der
Stellung des Strafantrags erfolgen dürfen, auch auf den vorliegenden Fall
Anwendung finden. Und offenbar ist das Militärgericht nach diesen Be¬
stimmungen verfahren. Da Friedmann die Rechtmäßigkeit der Verhaftung nur
aus diesem einen Grunde bestreitet und damit zweifellos zugesteht, daß deren
übrige gesetzliche Vornnssetznugen vorlagen, so brauche ich auf diese nicht ein¬
zugehen.

Was soll man nun von einem Manne sagen, der selber Jurist ist, der
die Strafprozeßordnung viele Jahre hindurch berufsmäßig gehandhabt hat
und der es, bevor er unbescholtne und pflichttreue Justizbeamte mit höhnischen
Worten der empörendsten Unwissenheit und Rechtsbrüche zeiht, nicht einmal
für der Mühe wert hält, das Gesetzbuch aufzuschlagen und sich daraus mit
einem Blick eines bessern zu belehren? Wenn man bedenkt, daß sich Fried¬
mann mit diesen Fragen während des Prozesses Kotze vielfach und eingehend
beschäftigt haben muß, daß ihm dabei der eben erörterte, gewiß auch jedem
nichtjuristischen Leser vollkommen verständliche Sachverhalt nicht entgangen
sein kann, so wird man kaum die stärksten Zweifel an seinen guten Glauben
unterdrücken können. Und dennoch ist es schwer, zu glauben, daß ein deutscher


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/31>, abgerufen am 06.01.2025.