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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Gerechte Urteile über den landwirtschaftlichen Notstand

Familien dem nach Bezahlung der Schuldzinsen noch übrig bleibenden Ein¬
nahmerest anzupassen. Dagegen seien die Bauern durchschnittlich niedriger
verschuldet, auch von Jugend auf mit dem landwirtschaftlichen Betriebe ver¬
traut, und viele von ihnen hätten in der vorangegangnen günstigen Periode
bedeutende Kapitalien zurückgelegt. Der Bauer habe endlich die Gewohnheit,
seine Ausgaben viel mehr seinen Einnahmen anzupassen. Dazu komme, daß
der Rückgang der Preise fast ausschließlich das Getreide, wenig oder gar nicht
die tierischen Erzeugnisse der Landwirtschaft betroffen habe. Nun sei aber der
Großgrundbesitzer bezüglich seiner baren Einnahmen viel mehr auf deu Verkauf
von Getreide angewiesen als der Bauer, der sein Getreide zum großen Teil
in der eignen Wirtschaft verbrauche und seine Bareinnahme aus dem Verkauf
tierischer Erzeugnisse und von Kartoffeln und Handelsgewächsen habe. Auch
unter dem Niedergang der Spiritus- und Zuckerpreise habe vorwiegend, ja
fast ausschließlich der Großgrundbesitz zu leiden gehabt. Auch die starke
Steigerung der Arbeitslöhne und die aus der neuen Sozialgesetzgebung er¬
wachsenden bedeutenden Unkosten hätten den Großgrundbesitzer weit mehr be¬
troffen als deu Bauer, da dieser weit weniger Lohnarbeiter zu halten brauche.
"Da im nördlichen, besonders im nordöstlichen Deutschland der Großgrund¬
besitz sehr viel stärker als im mittlern und südlichen vertreten ist, so ergiebt
sich von selbst, daß sich dort auch der Notstand am empfindlichsten fühlbar
macht und von dort aus die lautesten Klagen ertönen."

Wenn schon die Ansicht, die Professor von der Goltz nach dem bisher
mitgeteilten über die Ursache" und den Charakter der hentia.er landwirtschaft¬
lichen Krisis gewonnen hat, gewiß nichts gemein hat mit den Ansichten, die
von den Agrariern unsern Landwirten beigebracht werden, sondern ganz und
gar dem entspricht, was auch in deu Grenzboten immer aufs nachdrücklichste
gegen die agrarischen Ansprüche und Vorschläge geltend gemacht worden ist,
so ist vollends das, was der Verfasser über die Beseitigung des herrschenden
Notstandes ausführt, ein schlagender Beweis dafür, daß eine scharfe Ver¬
urteilung des Agrariertums der wahren Freundschaft für den Stand der Land¬
wirte am meisten entspricht.

Zunächst giebt er eine nicht genug zu beherzigende Kritik des seit etwa
einem Menschenalter und länger in der landwirtschaftlichen Theorie und Praxis
fast ausschließlich zur Herrschaft gekommnen Strebens, "die neuen Forschungen
der Naturwissenschaft im einzelnen für die Steigerung der landwirtschaftlichen
Produktion nutzbar" zu machen. Das erfreuliche Ergebnis dieses Strebens
sei, daß nicht nur die größern Grundbesitzer, sondern auch sehr viele Bauern
ihren Acker heute viel besser bearbeiteten und düngten und mit angemessenen
Gewächsen bebaute" als vor dreißig Jahren, daß sie ebenso ihr Vieh nach
vernünftigem Grundsätzen auszogen, fütterten und pflegten. Begünstigt worden
sei diese Entwicklung noch wesentlich dnrch den Aufschwung, den das land-


Gerechte Urteile über den landwirtschaftlichen Notstand

Familien dem nach Bezahlung der Schuldzinsen noch übrig bleibenden Ein¬
nahmerest anzupassen. Dagegen seien die Bauern durchschnittlich niedriger
verschuldet, auch von Jugend auf mit dem landwirtschaftlichen Betriebe ver¬
traut, und viele von ihnen hätten in der vorangegangnen günstigen Periode
bedeutende Kapitalien zurückgelegt. Der Bauer habe endlich die Gewohnheit,
seine Ausgaben viel mehr seinen Einnahmen anzupassen. Dazu komme, daß
der Rückgang der Preise fast ausschließlich das Getreide, wenig oder gar nicht
die tierischen Erzeugnisse der Landwirtschaft betroffen habe. Nun sei aber der
Großgrundbesitzer bezüglich seiner baren Einnahmen viel mehr auf deu Verkauf
von Getreide angewiesen als der Bauer, der sein Getreide zum großen Teil
in der eignen Wirtschaft verbrauche und seine Bareinnahme aus dem Verkauf
tierischer Erzeugnisse und von Kartoffeln und Handelsgewächsen habe. Auch
unter dem Niedergang der Spiritus- und Zuckerpreise habe vorwiegend, ja
fast ausschließlich der Großgrundbesitz zu leiden gehabt. Auch die starke
Steigerung der Arbeitslöhne und die aus der neuen Sozialgesetzgebung er¬
wachsenden bedeutenden Unkosten hätten den Großgrundbesitzer weit mehr be¬
troffen als deu Bauer, da dieser weit weniger Lohnarbeiter zu halten brauche.
„Da im nördlichen, besonders im nordöstlichen Deutschland der Großgrund¬
besitz sehr viel stärker als im mittlern und südlichen vertreten ist, so ergiebt
sich von selbst, daß sich dort auch der Notstand am empfindlichsten fühlbar
macht und von dort aus die lautesten Klagen ertönen."

Wenn schon die Ansicht, die Professor von der Goltz nach dem bisher
mitgeteilten über die Ursache» und den Charakter der hentia.er landwirtschaft¬
lichen Krisis gewonnen hat, gewiß nichts gemein hat mit den Ansichten, die
von den Agrariern unsern Landwirten beigebracht werden, sondern ganz und
gar dem entspricht, was auch in deu Grenzboten immer aufs nachdrücklichste
gegen die agrarischen Ansprüche und Vorschläge geltend gemacht worden ist,
so ist vollends das, was der Verfasser über die Beseitigung des herrschenden
Notstandes ausführt, ein schlagender Beweis dafür, daß eine scharfe Ver¬
urteilung des Agrariertums der wahren Freundschaft für den Stand der Land¬
wirte am meisten entspricht.

Zunächst giebt er eine nicht genug zu beherzigende Kritik des seit etwa
einem Menschenalter und länger in der landwirtschaftlichen Theorie und Praxis
fast ausschließlich zur Herrschaft gekommnen Strebens, „die neuen Forschungen
der Naturwissenschaft im einzelnen für die Steigerung der landwirtschaftlichen
Produktion nutzbar" zu machen. Das erfreuliche Ergebnis dieses Strebens
sei, daß nicht nur die größern Grundbesitzer, sondern auch sehr viele Bauern
ihren Acker heute viel besser bearbeiteten und düngten und mit angemessenen
Gewächsen bebaute» als vor dreißig Jahren, daß sie ebenso ihr Vieh nach
vernünftigem Grundsätzen auszogen, fütterten und pflegten. Begünstigt worden
sei diese Entwicklung noch wesentlich dnrch den Aufschwung, den das land-


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[0308] Gerechte Urteile über den landwirtschaftlichen Notstand Familien dem nach Bezahlung der Schuldzinsen noch übrig bleibenden Ein¬ nahmerest anzupassen. Dagegen seien die Bauern durchschnittlich niedriger verschuldet, auch von Jugend auf mit dem landwirtschaftlichen Betriebe ver¬ traut, und viele von ihnen hätten in der vorangegangnen günstigen Periode bedeutende Kapitalien zurückgelegt. Der Bauer habe endlich die Gewohnheit, seine Ausgaben viel mehr seinen Einnahmen anzupassen. Dazu komme, daß der Rückgang der Preise fast ausschließlich das Getreide, wenig oder gar nicht die tierischen Erzeugnisse der Landwirtschaft betroffen habe. Nun sei aber der Großgrundbesitzer bezüglich seiner baren Einnahmen viel mehr auf deu Verkauf von Getreide angewiesen als der Bauer, der sein Getreide zum großen Teil in der eignen Wirtschaft verbrauche und seine Bareinnahme aus dem Verkauf tierischer Erzeugnisse und von Kartoffeln und Handelsgewächsen habe. Auch unter dem Niedergang der Spiritus- und Zuckerpreise habe vorwiegend, ja fast ausschließlich der Großgrundbesitz zu leiden gehabt. Auch die starke Steigerung der Arbeitslöhne und die aus der neuen Sozialgesetzgebung er¬ wachsenden bedeutenden Unkosten hätten den Großgrundbesitzer weit mehr be¬ troffen als deu Bauer, da dieser weit weniger Lohnarbeiter zu halten brauche. „Da im nördlichen, besonders im nordöstlichen Deutschland der Großgrund¬ besitz sehr viel stärker als im mittlern und südlichen vertreten ist, so ergiebt sich von selbst, daß sich dort auch der Notstand am empfindlichsten fühlbar macht und von dort aus die lautesten Klagen ertönen." Wenn schon die Ansicht, die Professor von der Goltz nach dem bisher mitgeteilten über die Ursache» und den Charakter der hentia.er landwirtschaft¬ lichen Krisis gewonnen hat, gewiß nichts gemein hat mit den Ansichten, die von den Agrariern unsern Landwirten beigebracht werden, sondern ganz und gar dem entspricht, was auch in deu Grenzboten immer aufs nachdrücklichste gegen die agrarischen Ansprüche und Vorschläge geltend gemacht worden ist, so ist vollends das, was der Verfasser über die Beseitigung des herrschenden Notstandes ausführt, ein schlagender Beweis dafür, daß eine scharfe Ver¬ urteilung des Agrariertums der wahren Freundschaft für den Stand der Land¬ wirte am meisten entspricht. Zunächst giebt er eine nicht genug zu beherzigende Kritik des seit etwa einem Menschenalter und länger in der landwirtschaftlichen Theorie und Praxis fast ausschließlich zur Herrschaft gekommnen Strebens, „die neuen Forschungen der Naturwissenschaft im einzelnen für die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion nutzbar" zu machen. Das erfreuliche Ergebnis dieses Strebens sei, daß nicht nur die größern Grundbesitzer, sondern auch sehr viele Bauern ihren Acker heute viel besser bearbeiteten und düngten und mit angemessenen Gewächsen bebaute» als vor dreißig Jahren, daß sie ebenso ihr Vieh nach vernünftigem Grundsätzen auszogen, fütterten und pflegten. Begünstigt worden sei diese Entwicklung noch wesentlich dnrch den Aufschwung, den das land-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/308>, abgerufen am 08.01.2025.