Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Willibald Beyschlags Lebenserinnerungen Anschaulich und lebendig läßt der Verfasser seine Vaterstadt, das alte Das nebenbei. Die wichtigsten Mitteilungen aus der Jugendgeschichte Willibald Beyschlags Lebenserinnerungen Anschaulich und lebendig läßt der Verfasser seine Vaterstadt, das alte Das nebenbei. Die wichtigsten Mitteilungen aus der Jugendgeschichte <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0291" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223875"/> <fw type="header" place="top"> Willibald Beyschlags Lebenserinnerungen</fw><lb/> <p xml:id="ID_910"> Anschaulich und lebendig läßt der Verfasser seine Vaterstadt, das alte<lb/> Frankfurt, die freie Stadt in ihren letzten Jahrzehnten, mit allen Vorzügen<lb/> und Mängeln ihres Sonderdaseins vor uns erstehen; eingehend schildert er<lb/> die Eindrücke der in dem alten Frankfurter Gymnasium verbrachten Schulzeit.<lb/> Die abschließende Bemerkung zum vierten Kapitel: „Es ist aus dem damaligen<lb/> Frankfurter Gymnasium unerachtet seiner großen Mängel eine ganze Anzahl<lb/> das Mittelmaß überragender Männer hervorgegangen, und ich schreibe das<lb/> zum guten Teil dem weiten Spielraum zu, den es der freien Entwicklung der<lb/> Individualität ließ. Dagegen weniger glücklich und kräftig angelegte Naturen<lb/> zu einem brauchbaren Mittelgut zu Schulen, war es kaum geeignet, und manche,<lb/> denen mau den abwärts gerichteten Zug schon anmerkte, hatten alle Freiheit<lb/> zu Grunde zu gehen," faßt den Unterschied der neuern Pädagogik und Methodik<lb/> zur frühern und das besondre Verdienst der neuern gleichsam in der Nußschale<lb/> zusammen. Gewiß, in der Schulung des Mittelgutes wird heute außerordent¬<lb/> liches geleistet. Nur daß man sich immer wieder die Frage vorlegen muß,<lb/> ob das, was Pflicht und Ehre der Volksschule ist, zur alleinigen Aufgabe der<lb/> höhern Schule werden darf, ob das Talent, das wir doch nicht entbehren<lb/> können, nicht ein höheres Recht hat als das, mit dem brauchbaren Mittelgut<lb/> in einer Linie gehalten zu werden, ob unsre Gymnasien immer ausschließlicher<lb/> daraus ausgehen sollen, die Söhne der reichen Familien, mögen sie beschaffen<lb/> sein, wie sie wollen, wohl oder übel für die Hochschulstudien herzurichten.</p><lb/> <p xml:id="ID_911" next="#ID_912"> Das nebenbei. Die wichtigsten Mitteilungen aus der Jugendgeschichte<lb/> des künftigen Theologen sind die über die religiöse Richtung und Stimmung<lb/> seines Vaters und die Gegensätze eines tiefern religiösen Bedürfnisses zu dem<lb/> alten verknöcherten Nationalismus. Der Knabe erlebte den Krieg, in dem „den<lb/> noch weit überwiegenden rationalistischen Predigern und Kirchenregierungen<lb/> eine Minderzahl von begeisterten Geistlichen und Laien in enggeschlossenen<lb/> Privatkreisen gegenüberstand." Alle Lichtseiten der „jung erweckten, mehr oder<lb/> weniger pietistisch gefärbten Gläubigkeit" erkannte Beyschlag in seineu nächsten<lb/> Umgebungen, und da ihm, trotz der Beziehungen seines Vaters zu den Stillen<lb/> im Lande, „die Freiheit der natürlichen Bewegung und Kraftentfaltung ganz<lb/> unverschränkt blieb," da er in Naturgenuß und den mächtigen poetischen Ein¬<lb/> drücken der Litteratur früh über die Enge der bloß erbaulichen Lebensstimmung<lb/> hinauswuchs, so geriet er auch nicht in die Gefahr der geistigen Verkümme¬<lb/> rung, die an der sittlichen Berechtigung von Kunst und Poesie zweifelt und<lb/> die überwältigende Mannichfaltigkeit und Fülle der Welt als etwas feindliches<lb/> und störendes empfindet. Die Gegenseite und die verhängnisvolle Wirkung<lb/> des neuen religiösen Geistes lernte er an der Erscheinung des Gymnasialrcktors<lb/> Dr. Vömel, des Schwiegersohns Jung Stillings abschätzen, eines gelehrten,<lb/> wohlmeinenden Mannes, der ihm versöhnlich Wohlwollen erwies. Aber „sein<lb/> Standpunkt als Theologe und daher anch als Pädagoge war der des orthodoxen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0291]
Willibald Beyschlags Lebenserinnerungen
Anschaulich und lebendig läßt der Verfasser seine Vaterstadt, das alte
Frankfurt, die freie Stadt in ihren letzten Jahrzehnten, mit allen Vorzügen
und Mängeln ihres Sonderdaseins vor uns erstehen; eingehend schildert er
die Eindrücke der in dem alten Frankfurter Gymnasium verbrachten Schulzeit.
Die abschließende Bemerkung zum vierten Kapitel: „Es ist aus dem damaligen
Frankfurter Gymnasium unerachtet seiner großen Mängel eine ganze Anzahl
das Mittelmaß überragender Männer hervorgegangen, und ich schreibe das
zum guten Teil dem weiten Spielraum zu, den es der freien Entwicklung der
Individualität ließ. Dagegen weniger glücklich und kräftig angelegte Naturen
zu einem brauchbaren Mittelgut zu Schulen, war es kaum geeignet, und manche,
denen mau den abwärts gerichteten Zug schon anmerkte, hatten alle Freiheit
zu Grunde zu gehen," faßt den Unterschied der neuern Pädagogik und Methodik
zur frühern und das besondre Verdienst der neuern gleichsam in der Nußschale
zusammen. Gewiß, in der Schulung des Mittelgutes wird heute außerordent¬
liches geleistet. Nur daß man sich immer wieder die Frage vorlegen muß,
ob das, was Pflicht und Ehre der Volksschule ist, zur alleinigen Aufgabe der
höhern Schule werden darf, ob das Talent, das wir doch nicht entbehren
können, nicht ein höheres Recht hat als das, mit dem brauchbaren Mittelgut
in einer Linie gehalten zu werden, ob unsre Gymnasien immer ausschließlicher
daraus ausgehen sollen, die Söhne der reichen Familien, mögen sie beschaffen
sein, wie sie wollen, wohl oder übel für die Hochschulstudien herzurichten.
Das nebenbei. Die wichtigsten Mitteilungen aus der Jugendgeschichte
des künftigen Theologen sind die über die religiöse Richtung und Stimmung
seines Vaters und die Gegensätze eines tiefern religiösen Bedürfnisses zu dem
alten verknöcherten Nationalismus. Der Knabe erlebte den Krieg, in dem „den
noch weit überwiegenden rationalistischen Predigern und Kirchenregierungen
eine Minderzahl von begeisterten Geistlichen und Laien in enggeschlossenen
Privatkreisen gegenüberstand." Alle Lichtseiten der „jung erweckten, mehr oder
weniger pietistisch gefärbten Gläubigkeit" erkannte Beyschlag in seineu nächsten
Umgebungen, und da ihm, trotz der Beziehungen seines Vaters zu den Stillen
im Lande, „die Freiheit der natürlichen Bewegung und Kraftentfaltung ganz
unverschränkt blieb," da er in Naturgenuß und den mächtigen poetischen Ein¬
drücken der Litteratur früh über die Enge der bloß erbaulichen Lebensstimmung
hinauswuchs, so geriet er auch nicht in die Gefahr der geistigen Verkümme¬
rung, die an der sittlichen Berechtigung von Kunst und Poesie zweifelt und
die überwältigende Mannichfaltigkeit und Fülle der Welt als etwas feindliches
und störendes empfindet. Die Gegenseite und die verhängnisvolle Wirkung
des neuen religiösen Geistes lernte er an der Erscheinung des Gymnasialrcktors
Dr. Vömel, des Schwiegersohns Jung Stillings abschätzen, eines gelehrten,
wohlmeinenden Mannes, der ihm versöhnlich Wohlwollen erwies. Aber „sein
Standpunkt als Theologe und daher anch als Pädagoge war der des orthodoxen
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