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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Eine Geschichte der Juden

hat und daher über das wirtschaftlich erlaubte Maß hinaus Schulden zu machen
genötigt ist. Wucher wird genug getrieben, wenn man unter Wucher die Aus¬
beutung der Not des Nächsten versteht, aber weniger durch Geldleihen, als
auf andre Weise. Wer ungesunde Wohnungen um hohen Zins an arme Leute
vermietet und ihnen bei der ersten Zahlungsversüumnis ihr bischen Hausrat
nimmt, wer die Gunst des Arbeitsmarktes benutzt, um seinen Arbeitern Hunger¬
löhne zu zahlen, der treibt Wucher in weit ärgerer Weise als der Geldverleiher.
Denn wohnen und arbeiten muß der Arme, aber Schulden zu machen, das
hat er nicht nötig; er kann seine Lage offenbaren und wird dann ein Gegen¬
stand der Wohlthätigkeit, anstatt Gegenstand der Bewucherung durch einen
Geldverleiher zu werden. Der Liederliche und der Leichtsinnige aber verdienen
weder Mitleid, noch den Schutz der Gesetzgebung. Weist sie der Geldverleiher
ab und überläßt sie ihrem Schicksal, so geschieht ihnen recht; benutzt er die
Gelegenheit, ihnen den Nest ihrer Habe abzunehmen, so geschieht ihnen ebenso
recht. An der Zinsgesetzgebung der modernen Staaten ist gar nichts auszu¬
setzen; jederman steht es frei, mit Standesgenossen zusammen Kreditanstalten
zu gründen, die sein Produktivkreditbedürfnis in der billigsten Weise befriedigen.
Wenn das Leihkapital allerdings einen Druck ausübt und eine der Mitursachen
der Nöte unsrer Zeit bildet, so liegt das nicht an einer falschen Regelung des
Verhältnisses zwischen dem einzelnen Schuldner und seinem Gläubiger, sondern
daran, daß das Leihkapital im Verhältnis zu seinem Pfandobjekt, zu seiner
Grundlage, das Papierkapital im Verhältnis zum Nealkapital, das in Forde¬
rungen bestehende Vermögen im Verhältnis zu dem in Gütern bestehenden zu
groß ist, und daß die Papierwerte Gegenstand einer Spekulation sind, die fort¬
während die Ersparnisse der kleinen Kapitalisten in die Geldschränke der großen
überleitet. Diesen Zustand haben aber nicht die gewerbsmäßigen Geldverleiher
herbeigeführt -- obwohl ihn die großen unter ihnen, nachdem er einmal ge¬
worden ist, zu erhalten und. zu fördern bemüht sind --, sondern die Volks¬
vermehrung und die Regierungen. Die Volksvermehrung bewirkt, daß nur
noch ein kleiner Teil der Volksgenossen mit der dauerhaftesten und wert¬
beständigsten aller Vermögensarten, mit Grund und Boden ausgestattet werden
kann, während sich die Mehrzahl darauf angewiesen sieht, wenn sie nicht rein
Proletarisch leben will, einen hypothekarischen Anspruch auf den von der Minder¬
heit besessenen Grund und Boden in irgend welcher Form zu erwerben: in Form
einer wirklichen Hypothek, eines Renten- oder Pfandbriefs, eines Staatsschuld¬
scheins, einer Aktie, eines Sparkassenbuchs, einer geistlichen oder Staatspfründe.
Die Regierungen aber machen unausgesetzt Schulden, d. h. schaffen neues Leih¬
kapital, neue Ansprüche von nichtarbeitenden und Nichtgrundbesitzern auf den
Ertrag der Arbeit und der Grundstücke, teils zur Verteidigung der Vaterländer,
teils um den gierigen Sparern neue Anlagegelegenheiten zu eröffnen und das
Sinken des Zinsfußes ans Null zu verhüten, teils um auf Kosten der Steuer-


Eine Geschichte der Juden

hat und daher über das wirtschaftlich erlaubte Maß hinaus Schulden zu machen
genötigt ist. Wucher wird genug getrieben, wenn man unter Wucher die Aus¬
beutung der Not des Nächsten versteht, aber weniger durch Geldleihen, als
auf andre Weise. Wer ungesunde Wohnungen um hohen Zins an arme Leute
vermietet und ihnen bei der ersten Zahlungsversüumnis ihr bischen Hausrat
nimmt, wer die Gunst des Arbeitsmarktes benutzt, um seinen Arbeitern Hunger¬
löhne zu zahlen, der treibt Wucher in weit ärgerer Weise als der Geldverleiher.
Denn wohnen und arbeiten muß der Arme, aber Schulden zu machen, das
hat er nicht nötig; er kann seine Lage offenbaren und wird dann ein Gegen¬
stand der Wohlthätigkeit, anstatt Gegenstand der Bewucherung durch einen
Geldverleiher zu werden. Der Liederliche und der Leichtsinnige aber verdienen
weder Mitleid, noch den Schutz der Gesetzgebung. Weist sie der Geldverleiher
ab und überläßt sie ihrem Schicksal, so geschieht ihnen recht; benutzt er die
Gelegenheit, ihnen den Nest ihrer Habe abzunehmen, so geschieht ihnen ebenso
recht. An der Zinsgesetzgebung der modernen Staaten ist gar nichts auszu¬
setzen; jederman steht es frei, mit Standesgenossen zusammen Kreditanstalten
zu gründen, die sein Produktivkreditbedürfnis in der billigsten Weise befriedigen.
Wenn das Leihkapital allerdings einen Druck ausübt und eine der Mitursachen
der Nöte unsrer Zeit bildet, so liegt das nicht an einer falschen Regelung des
Verhältnisses zwischen dem einzelnen Schuldner und seinem Gläubiger, sondern
daran, daß das Leihkapital im Verhältnis zu seinem Pfandobjekt, zu seiner
Grundlage, das Papierkapital im Verhältnis zum Nealkapital, das in Forde¬
rungen bestehende Vermögen im Verhältnis zu dem in Gütern bestehenden zu
groß ist, und daß die Papierwerte Gegenstand einer Spekulation sind, die fort¬
während die Ersparnisse der kleinen Kapitalisten in die Geldschränke der großen
überleitet. Diesen Zustand haben aber nicht die gewerbsmäßigen Geldverleiher
herbeigeführt — obwohl ihn die großen unter ihnen, nachdem er einmal ge¬
worden ist, zu erhalten und. zu fördern bemüht sind —, sondern die Volks¬
vermehrung und die Regierungen. Die Volksvermehrung bewirkt, daß nur
noch ein kleiner Teil der Volksgenossen mit der dauerhaftesten und wert¬
beständigsten aller Vermögensarten, mit Grund und Boden ausgestattet werden
kann, während sich die Mehrzahl darauf angewiesen sieht, wenn sie nicht rein
Proletarisch leben will, einen hypothekarischen Anspruch auf den von der Minder¬
heit besessenen Grund und Boden in irgend welcher Form zu erwerben: in Form
einer wirklichen Hypothek, eines Renten- oder Pfandbriefs, eines Staatsschuld¬
scheins, einer Aktie, eines Sparkassenbuchs, einer geistlichen oder Staatspfründe.
Die Regierungen aber machen unausgesetzt Schulden, d. h. schaffen neues Leih¬
kapital, neue Ansprüche von nichtarbeitenden und Nichtgrundbesitzern auf den
Ertrag der Arbeit und der Grundstücke, teils zur Verteidigung der Vaterländer,
teils um den gierigen Sparern neue Anlagegelegenheiten zu eröffnen und das
Sinken des Zinsfußes ans Null zu verhüten, teils um auf Kosten der Steuer-


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[0283] Eine Geschichte der Juden hat und daher über das wirtschaftlich erlaubte Maß hinaus Schulden zu machen genötigt ist. Wucher wird genug getrieben, wenn man unter Wucher die Aus¬ beutung der Not des Nächsten versteht, aber weniger durch Geldleihen, als auf andre Weise. Wer ungesunde Wohnungen um hohen Zins an arme Leute vermietet und ihnen bei der ersten Zahlungsversüumnis ihr bischen Hausrat nimmt, wer die Gunst des Arbeitsmarktes benutzt, um seinen Arbeitern Hunger¬ löhne zu zahlen, der treibt Wucher in weit ärgerer Weise als der Geldverleiher. Denn wohnen und arbeiten muß der Arme, aber Schulden zu machen, das hat er nicht nötig; er kann seine Lage offenbaren und wird dann ein Gegen¬ stand der Wohlthätigkeit, anstatt Gegenstand der Bewucherung durch einen Geldverleiher zu werden. Der Liederliche und der Leichtsinnige aber verdienen weder Mitleid, noch den Schutz der Gesetzgebung. Weist sie der Geldverleiher ab und überläßt sie ihrem Schicksal, so geschieht ihnen recht; benutzt er die Gelegenheit, ihnen den Nest ihrer Habe abzunehmen, so geschieht ihnen ebenso recht. An der Zinsgesetzgebung der modernen Staaten ist gar nichts auszu¬ setzen; jederman steht es frei, mit Standesgenossen zusammen Kreditanstalten zu gründen, die sein Produktivkreditbedürfnis in der billigsten Weise befriedigen. Wenn das Leihkapital allerdings einen Druck ausübt und eine der Mitursachen der Nöte unsrer Zeit bildet, so liegt das nicht an einer falschen Regelung des Verhältnisses zwischen dem einzelnen Schuldner und seinem Gläubiger, sondern daran, daß das Leihkapital im Verhältnis zu seinem Pfandobjekt, zu seiner Grundlage, das Papierkapital im Verhältnis zum Nealkapital, das in Forde¬ rungen bestehende Vermögen im Verhältnis zu dem in Gütern bestehenden zu groß ist, und daß die Papierwerte Gegenstand einer Spekulation sind, die fort¬ während die Ersparnisse der kleinen Kapitalisten in die Geldschränke der großen überleitet. Diesen Zustand haben aber nicht die gewerbsmäßigen Geldverleiher herbeigeführt — obwohl ihn die großen unter ihnen, nachdem er einmal ge¬ worden ist, zu erhalten und. zu fördern bemüht sind —, sondern die Volks¬ vermehrung und die Regierungen. Die Volksvermehrung bewirkt, daß nur noch ein kleiner Teil der Volksgenossen mit der dauerhaftesten und wert¬ beständigsten aller Vermögensarten, mit Grund und Boden ausgestattet werden kann, während sich die Mehrzahl darauf angewiesen sieht, wenn sie nicht rein Proletarisch leben will, einen hypothekarischen Anspruch auf den von der Minder¬ heit besessenen Grund und Boden in irgend welcher Form zu erwerben: in Form einer wirklichen Hypothek, eines Renten- oder Pfandbriefs, eines Staatsschuld¬ scheins, einer Aktie, eines Sparkassenbuchs, einer geistlichen oder Staatspfründe. Die Regierungen aber machen unausgesetzt Schulden, d. h. schaffen neues Leih¬ kapital, neue Ansprüche von nichtarbeitenden und Nichtgrundbesitzern auf den Ertrag der Arbeit und der Grundstücke, teils zur Verteidigung der Vaterländer, teils um den gierigen Sparern neue Anlagegelegenheiten zu eröffnen und das Sinken des Zinsfußes ans Null zu verhüten, teils um auf Kosten der Steuer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/283>, abgerufen am 08.01.2025.