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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Line Geschichte der Juden

zcchler der stockenden Industrie aufzuhelfen und die Eisenwerke, die Tuch- und
Lederwarenfabriken zu beschäftigen.

Also die freie Konkurrenz hat die Zinsfrcige sehr viel befriedigender gelöst,
als es eine Gesetzgebung vermochte, die aus den erhabensten Anschauungen und
aus den edelsten Absichten hervorgegangen war. Und wie ist diese Gesetzgebung,
die sich christlich und höchst sittlich zu sein, den Willen Gottes zu verwirklichen
und die Volkswirtschaft vernünftig zu gestalten vermaß, im einzelnen in das
Gegenteil von alledem umgeschlagen! Was kann es unsittlicheres, unchrist¬
licheres, liebloseres und volkswirtschaftlich verkehrteres geben, als den Diskont
und die Entschädigung oder Strafe für Zahlungsversäumnis zu verbieten!
Heißt das nicht der Gewissenlosigkeit und Liederlichkeit Thür und Thor öffnen?
Rührt nicht das vielbeklagte Handwerkerelend unsrer Zeit zu einem großen Teil
von der erbärmlichen Borgwirtschaft her? Von der Gewissenlosigkeit, mit der
die Kunden dem Handwerker schuldig bleiben, und von dem Umstände, daß der
Handwerker nicht in der Lage ist, seine Forderungen diskontiren zu lassen?
Wäre es nicht eine ungeheure Wohlthat, obwohl nur die Befriedigung eines
Rechtsanspruchs, für die Handwerker, wenn bestimmt würde, daß jeder, der
sie nicht bar bezahlt, einen Wechsel auszustellen hätte, den der Empfänger so¬
fort versilbern könnte? Selbstverständlich hätte nicht der Schneider, sondern
der Kunde den Abzug zu tragen, d. h. also dieser hätte einen Wechsel über
hundert Mark auszustellen, wenn er die dem Schneider geschuldete Summe von
fünfundneunzig Mark erst übers Jahr zu zahlen gedächte. Daß es die Zeit
sei, was beim Diskont bezahlt wird, daß diese aber ein allgemeines Gut sei
und daher nicht ins Privateigentum übergehen und nicht Gegenstand des
Handels werden dürfe, ist doch nur ein kindisches Sophisma. Gerade aus der
unleugbaren Thatsache, daß der Sperling in der Hand mehr wert ist als die
Taube auf dem Dache, leitet die Schule von Jevons und Böhm-Bawerk die
Berechtigung des Zinses überhaupt ab, das Recht, sich eine Taube versprechen
zu lassen, wenn man einen Sperling hingiebt. So weit nun, die Zins¬
berechtigung ausschließlich auf den Wertuuterschied zwischen Gegenwarts- und
Zukunftsgütern zu gründen, gehen wir allerdings nicht, wir leiten sie -- hierin
in Übereinstimmung mit dem kanonischen Recht -- aus dem Eigentum her; aber
daß der Zahlungsverzug, wo er vorkommt, zu eiuer Eutschädiguugsforderuug
berechtigt, und daß sowohl die christliche Nächstenliebe wie die Grundsätze einer
vernünftigen Volkswirtschaft streng darauf zu halten gebieten, das verkannt zu
haben gereicht dem Scharfsinn der mittelalterlichen Kanonisten nicht eben
zur Ehre.

Der großartige Versuch der alten Kirche, die bürgerliche Gesellschaft nach
den Grundsätzen des Evangeliums einzurichten, ist mißlungen und mußte mi߬
lingen. Auf die Grundsätze des Evangeliums läßt sich kein Staatswesen
bauen. Menschen, die nicht für den morgigen Tag sorgen, sondern hoffen,


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zcchler der stockenden Industrie aufzuhelfen und die Eisenwerke, die Tuch- und
Lederwarenfabriken zu beschäftigen.

Also die freie Konkurrenz hat die Zinsfrcige sehr viel befriedigender gelöst,
als es eine Gesetzgebung vermochte, die aus den erhabensten Anschauungen und
aus den edelsten Absichten hervorgegangen war. Und wie ist diese Gesetzgebung,
die sich christlich und höchst sittlich zu sein, den Willen Gottes zu verwirklichen
und die Volkswirtschaft vernünftig zu gestalten vermaß, im einzelnen in das
Gegenteil von alledem umgeschlagen! Was kann es unsittlicheres, unchrist¬
licheres, liebloseres und volkswirtschaftlich verkehrteres geben, als den Diskont
und die Entschädigung oder Strafe für Zahlungsversäumnis zu verbieten!
Heißt das nicht der Gewissenlosigkeit und Liederlichkeit Thür und Thor öffnen?
Rührt nicht das vielbeklagte Handwerkerelend unsrer Zeit zu einem großen Teil
von der erbärmlichen Borgwirtschaft her? Von der Gewissenlosigkeit, mit der
die Kunden dem Handwerker schuldig bleiben, und von dem Umstände, daß der
Handwerker nicht in der Lage ist, seine Forderungen diskontiren zu lassen?
Wäre es nicht eine ungeheure Wohlthat, obwohl nur die Befriedigung eines
Rechtsanspruchs, für die Handwerker, wenn bestimmt würde, daß jeder, der
sie nicht bar bezahlt, einen Wechsel auszustellen hätte, den der Empfänger so¬
fort versilbern könnte? Selbstverständlich hätte nicht der Schneider, sondern
der Kunde den Abzug zu tragen, d. h. also dieser hätte einen Wechsel über
hundert Mark auszustellen, wenn er die dem Schneider geschuldete Summe von
fünfundneunzig Mark erst übers Jahr zu zahlen gedächte. Daß es die Zeit
sei, was beim Diskont bezahlt wird, daß diese aber ein allgemeines Gut sei
und daher nicht ins Privateigentum übergehen und nicht Gegenstand des
Handels werden dürfe, ist doch nur ein kindisches Sophisma. Gerade aus der
unleugbaren Thatsache, daß der Sperling in der Hand mehr wert ist als die
Taube auf dem Dache, leitet die Schule von Jevons und Böhm-Bawerk die
Berechtigung des Zinses überhaupt ab, das Recht, sich eine Taube versprechen
zu lassen, wenn man einen Sperling hingiebt. So weit nun, die Zins¬
berechtigung ausschließlich auf den Wertuuterschied zwischen Gegenwarts- und
Zukunftsgütern zu gründen, gehen wir allerdings nicht, wir leiten sie — hierin
in Übereinstimmung mit dem kanonischen Recht — aus dem Eigentum her; aber
daß der Zahlungsverzug, wo er vorkommt, zu eiuer Eutschädiguugsforderuug
berechtigt, und daß sowohl die christliche Nächstenliebe wie die Grundsätze einer
vernünftigen Volkswirtschaft streng darauf zu halten gebieten, das verkannt zu
haben gereicht dem Scharfsinn der mittelalterlichen Kanonisten nicht eben
zur Ehre.

Der großartige Versuch der alten Kirche, die bürgerliche Gesellschaft nach
den Grundsätzen des Evangeliums einzurichten, ist mißlungen und mußte mi߬
lingen. Auf die Grundsätze des Evangeliums läßt sich kein Staatswesen
bauen. Menschen, die nicht für den morgigen Tag sorgen, sondern hoffen,


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[0284] Line Geschichte der Juden zcchler der stockenden Industrie aufzuhelfen und die Eisenwerke, die Tuch- und Lederwarenfabriken zu beschäftigen. Also die freie Konkurrenz hat die Zinsfrcige sehr viel befriedigender gelöst, als es eine Gesetzgebung vermochte, die aus den erhabensten Anschauungen und aus den edelsten Absichten hervorgegangen war. Und wie ist diese Gesetzgebung, die sich christlich und höchst sittlich zu sein, den Willen Gottes zu verwirklichen und die Volkswirtschaft vernünftig zu gestalten vermaß, im einzelnen in das Gegenteil von alledem umgeschlagen! Was kann es unsittlicheres, unchrist¬ licheres, liebloseres und volkswirtschaftlich verkehrteres geben, als den Diskont und die Entschädigung oder Strafe für Zahlungsversäumnis zu verbieten! Heißt das nicht der Gewissenlosigkeit und Liederlichkeit Thür und Thor öffnen? Rührt nicht das vielbeklagte Handwerkerelend unsrer Zeit zu einem großen Teil von der erbärmlichen Borgwirtschaft her? Von der Gewissenlosigkeit, mit der die Kunden dem Handwerker schuldig bleiben, und von dem Umstände, daß der Handwerker nicht in der Lage ist, seine Forderungen diskontiren zu lassen? Wäre es nicht eine ungeheure Wohlthat, obwohl nur die Befriedigung eines Rechtsanspruchs, für die Handwerker, wenn bestimmt würde, daß jeder, der sie nicht bar bezahlt, einen Wechsel auszustellen hätte, den der Empfänger so¬ fort versilbern könnte? Selbstverständlich hätte nicht der Schneider, sondern der Kunde den Abzug zu tragen, d. h. also dieser hätte einen Wechsel über hundert Mark auszustellen, wenn er die dem Schneider geschuldete Summe von fünfundneunzig Mark erst übers Jahr zu zahlen gedächte. Daß es die Zeit sei, was beim Diskont bezahlt wird, daß diese aber ein allgemeines Gut sei und daher nicht ins Privateigentum übergehen und nicht Gegenstand des Handels werden dürfe, ist doch nur ein kindisches Sophisma. Gerade aus der unleugbaren Thatsache, daß der Sperling in der Hand mehr wert ist als die Taube auf dem Dache, leitet die Schule von Jevons und Böhm-Bawerk die Berechtigung des Zinses überhaupt ab, das Recht, sich eine Taube versprechen zu lassen, wenn man einen Sperling hingiebt. So weit nun, die Zins¬ berechtigung ausschließlich auf den Wertuuterschied zwischen Gegenwarts- und Zukunftsgütern zu gründen, gehen wir allerdings nicht, wir leiten sie — hierin in Übereinstimmung mit dem kanonischen Recht — aus dem Eigentum her; aber daß der Zahlungsverzug, wo er vorkommt, zu eiuer Eutschädiguugsforderuug berechtigt, und daß sowohl die christliche Nächstenliebe wie die Grundsätze einer vernünftigen Volkswirtschaft streng darauf zu halten gebieten, das verkannt zu haben gereicht dem Scharfsinn der mittelalterlichen Kanonisten nicht eben zur Ehre. Der großartige Versuch der alten Kirche, die bürgerliche Gesellschaft nach den Grundsätzen des Evangeliums einzurichten, ist mißlungen und mußte mi߬ lingen. Auf die Grundsätze des Evangeliums läßt sich kein Staatswesen bauen. Menschen, die nicht für den morgigen Tag sorgen, sondern hoffen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/284>, abgerufen am 08.01.2025.