Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Skizzen aus unserm heutigen Volksleben Rede. Er sagte, was über den Gegenstand schon einige tausendmal gesagt worden Hierauf meldete sich der Herr Pastor zum Worte, das ihm bereitwilligst ver¬ Der Herr Pastor befand sich in übler Lage. Alle seineu schönen Kraftworte Genosse Schlamm antwortete in dem Tone eines wohlwollenden Höhergestellten. Hier erhob sich der alte Kalkbrenner. Das war einer von deu "Heimlichen" Dem Herrn Pastor war zu Mute, als wenn der Boden unter seinen Füßen Grenzboten IV 1896 !!>
Skizzen aus unserm heutigen Volksleben Rede. Er sagte, was über den Gegenstand schon einige tausendmal gesagt worden Hierauf meldete sich der Herr Pastor zum Worte, das ihm bereitwilligst ver¬ Der Herr Pastor befand sich in übler Lage. Alle seineu schönen Kraftworte Genosse Schlamm antwortete in dem Tone eines wohlwollenden Höhergestellten. Hier erhob sich der alte Kalkbrenner. Das war einer von deu „Heimlichen" Dem Herrn Pastor war zu Mute, als wenn der Boden unter seinen Füßen Grenzboten IV 1896 !!>
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Skizzen aus unserm heutigen Volksleben
Rede. Er sagte, was über den Gegenstand schon einige tausendmal gesagt worden
war. Das besondre an seiner Rede war nnr, daß er sich sehr vorsichtig ausdrückte.
Ja er ließ durchblicken, daß man auch mit dem Kaiser, wenn er sich belehren lasse,
nicht zu brechen brauche, und daß selbstverständlich Religion Privatsache sei, die
niemand antasten werde.
Hierauf meldete sich der Herr Pastor zum Worte, das ihm bereitwilligst ver¬
stattet wurde. Jedes Murren der „Zielbewußten" wurde sofort vom Vorsitzenden
unterdrückt. Als einer von ihnen eine höhnische Zwischenbemerkung machte, wurde
er derb abgekauzelt und zur Ordnung gerufen.
Der Herr Pastor befand sich in übler Lage. Alle seineu schönen Kraftworte
konnte er nicht brauchen, denn es war ja gar niemand angegriffen worden. Es
blieb ihm nichts weiter übrig als eine sachliche Erörterung in farblosem Gewände.
Er mußte dem Vorredner in den Hauptpunkten Recht geben. Der Sinn seiner
Rede war der: die soziale Reformation muß gemacht werden, aber ihr sollt sie
nicht macheu, sondern wir wollen sie machen. Daß er mit seiner Rede keine große
Wirkung that, fühlte er wohl, und da er deshalb seine Rede verlängerte, schadete
er sich doppelt.
Genosse Schlamm antwortete in dem Tone eines wohlwollenden Höhergestellten.
Er lobte den Herrn Pastor und seine Bestrebungen sehr. Es gebe wenig Pastoren,
die die Vorurteile ihres Standes in der Weise wie Herr Pastor Schlehmil über¬
wunden hätten, und die so tief in die soziale Frage eingedrungen wären. Aber
die letzten Folgerungen habe er noch nicht gezogen. Er stehe auf de" Grenze, aber
den entscheidenden Schritt habe er noch nicht gethan, denn dieser bedeute deu
Eintritt in die svzinldemvkratische Partei. Keine Halbheiten! Die Zeit, sich mit
Flickwerk zu begnügen, sei vorüber; wer etwas Ganzes erreichen wolle, müsse auch
iwnze Arbeit machen.
Hier erhob sich der alte Kalkbrenner. Das war einer von deu „Heimlichen"
im Orte. Daß der schon einmal öffentlich geredet hätte, dessen konnte sich niemand
entsinnen. Er redete überhaupt wenig, aber er las viel und machte sich über alles
seine besondern Gedanken. Dieser nahm seine kurze Pfeife ans dem Munde und
sagte bedächtig: Unsereins ist nnr ein dummer Bauer, und so schön reden wie
die Herrn kann unsereins nicht. Aber ich muß auch ein Wort sagen. Die
Pastoren haben uns immer uur schöne Worte gemacht, und goldne Berge haben
sie uns versprochen, aber gehalten haben sie nichts. Und darüber wird man alt,
und es bleibt alles, wie es gewesen ist. Ich dächte, nur versuchten es einmal mit
deu Sozialisten. (Großer Beifall.) Schlechter kanns ja uicht werden. (Zwischen¬
ruf: Jawohl!) Was bei dem christlichen Arbeiterverein rauskommen soll, weiß ich
nicht. (Zwischenruf: Kommt nichts bei raus. Ackerpacht runtersetzen! Gelächter.)
Ich dächte, wir versuchten es einmal ans andre Weise. (Erneuter großer Beifall.)
Dem Herrn Pastor war zu Mute, als wenn der Boden unter seinen Füßen
ü'ankte. Er hatte geglaubt, festen Boden zu fassen, nun war er einem Wandrer
gleich, der auf die grüne trügerische Decke eines Moores geraten ist. Unter denen,
die Beifall riefen, waren Leute, von denen er das nun und nimmermehr erwartet
hätte. Er erhob sich nochmals, warnte und bat, aber seine Worte machten keinen
Eindruck. Er forderte seine christliche Arbeiterschaft ans, sich um ihn zu Scharen,
die Fahne der christlichen Weltanschauung festzuhalten und das Ohr fremden und
verderblichen Einflüsterungen zu verschließen. Aber es Scharte sich niemand um ihn,
niemand trat für ihn el», niemand hatte deu Mut, sich dem siegenden Feinde
entgegeuzuwerfeu. Er fühlte, daß er die Zügel gänzlich verloren, und daß er hier
Grenzboten IV 1896 !!>
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