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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Skizzen aus unserm heutigen Volksleben

nichts mehr zu suchen hatte. Als er betrübt die Treppe hinabstieg, hörte er, daß man
oben die Arbeitermarseillaise sang.

Am andern Tage sagte seine liebe Frau zu ihm: Höre, Albert, willst du nicht
einmal zum alten Kraut gehen? Er hat die Lungenentzündung und wird wohl
sterben.

Dem Herrn Pastor fiel es schwer aufs Gewisse", daß er über deu sozialen
Kampf seine Gemeinde ganz vergessen hatte. Er nahm seinen Hut und ging hiu.
Die Frau und die Schwiegertochter des Kranken empfingen den Herrn Pastor mit
sichtlicher Verlegenheit. Sie führten ihn in die Stube und gingen hinauf, um zu
fragen, ob der Großvater Besuch annehmen könne. Es dauerte eine lange Weile,
ehe sie wiederkamen. Wahrend dessen war der Herr Pastor und Samuel Krauts
Enkel allein in der Stube. Der Knabe hatte sein Tischchen umgedreht, deu
Nußknacker, in Decken gewickelt, hineingelegt und zwei Stühle als Pferde vor¬
gespannt.

Was machst du denn da, August? fragte der Herr Pastor.

Großvater begraben. Großvater kommt ins Bnllerloch. Angust kriegt Kuchen,
viel Kuchen.

Bist du denn nicht traurig, wenn der Großvater stirbt?

August nicht traurig. Großvater ganz alt. Großvater kann sterben, aber
Pastor soll nicht zu Großvater gehen.

Warum denn nicht?'

Kann Pastor nicht brauchen. Pastor will Großvater vom Hofe bringen.
Großvater allein sterben will.

Die Frauen kamen mit vielen Entschuldigungen zurück. Der Kranke sei zu
schwach, es werde ihn aufregen, wenn ihn der Herr Pastor besuchte. Der Herr
Pastor hörte kaum zu, sondern ging davon. Er wußte ja, warum man ihn nicht
wollte.

Acht Tage laug ließ sich der Herr Pastor nicht sehen. Wahrend dieser Zeit
wandelte er unzählige mal in seiner Studirstube ans und ab. Er ging mit sich
selber und seinen Bestrebungen ins Gericht. Daß die christlich-soziale Sache eine
verwerfliche sei, davon konnte er sich nicht überzeugen; aber es kam ihm der Zweifel,
ob er als Geistlicher das Recht habe, in die Reihe der Streitenden zu treten, ob
er nicht für die ganze Gemeinde zum Pastor bestellt sei, und ob er nicht aus
beideu Seiten zu lehre", zu trösten und zu helfen habe.

Am andern Montage reiste er in die Provinzialhanptstadt, stellte sich dem
Konsistorium vor und bat um seine Versetzung.




Skizzen aus unserm heutigen Volksleben

nichts mehr zu suchen hatte. Als er betrübt die Treppe hinabstieg, hörte er, daß man
oben die Arbeitermarseillaise sang.

Am andern Tage sagte seine liebe Frau zu ihm: Höre, Albert, willst du nicht
einmal zum alten Kraut gehen? Er hat die Lungenentzündung und wird wohl
sterben.

Dem Herrn Pastor fiel es schwer aufs Gewisse», daß er über deu sozialen
Kampf seine Gemeinde ganz vergessen hatte. Er nahm seinen Hut und ging hiu.
Die Frau und die Schwiegertochter des Kranken empfingen den Herrn Pastor mit
sichtlicher Verlegenheit. Sie führten ihn in die Stube und gingen hinauf, um zu
fragen, ob der Großvater Besuch annehmen könne. Es dauerte eine lange Weile,
ehe sie wiederkamen. Wahrend dessen war der Herr Pastor und Samuel Krauts
Enkel allein in der Stube. Der Knabe hatte sein Tischchen umgedreht, deu
Nußknacker, in Decken gewickelt, hineingelegt und zwei Stühle als Pferde vor¬
gespannt.

Was machst du denn da, August? fragte der Herr Pastor.

Großvater begraben. Großvater kommt ins Bnllerloch. Angust kriegt Kuchen,
viel Kuchen.

Bist du denn nicht traurig, wenn der Großvater stirbt?

August nicht traurig. Großvater ganz alt. Großvater kann sterben, aber
Pastor soll nicht zu Großvater gehen.

Warum denn nicht?'

Kann Pastor nicht brauchen. Pastor will Großvater vom Hofe bringen.
Großvater allein sterben will.

Die Frauen kamen mit vielen Entschuldigungen zurück. Der Kranke sei zu
schwach, es werde ihn aufregen, wenn ihn der Herr Pastor besuchte. Der Herr
Pastor hörte kaum zu, sondern ging davon. Er wußte ja, warum man ihn nicht
wollte.

Acht Tage laug ließ sich der Herr Pastor nicht sehen. Wahrend dieser Zeit
wandelte er unzählige mal in seiner Studirstube ans und ab. Er ging mit sich
selber und seinen Bestrebungen ins Gericht. Daß die christlich-soziale Sache eine
verwerfliche sei, davon konnte er sich nicht überzeugen; aber es kam ihm der Zweifel,
ob er als Geistlicher das Recht habe, in die Reihe der Streitenden zu treten, ob
er nicht für die ganze Gemeinde zum Pastor bestellt sei, und ob er nicht aus
beideu Seiten zu lehre», zu trösten und zu helfen habe.

Am andern Montage reiste er in die Provinzialhanptstadt, stellte sich dem
Konsistorium vor und bat um seine Versetzung.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/250>, abgerufen am 06.01.2025.