Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Skizzen aus unserm heutigen Volksleben Unsre Stimme ist auch nicht ungehört verklungen. Haben Sie schon die Rede Pogge gab die Zeitung herüber. Sie war so zerschnitten, daß sie aussah, Der Herr Pastor wunderte sich sehr. Er hätte nicht gedacht, daß das Nimziger Herr Stadtrat, sagte Pogge, da müssen wir aber doch den Artikel von Philipp¬ Ich dächte gar! erwiderte der Herr Stadtrat. Kümmern Sie sich doch nicht So erschien denn die nächste Nummer unter christlich-sozialer Beeinflussung, Herr Lamm las sein Blatt mit Wohlgefallen. Er fühlte die Befriedigung Inzwischen brachte die Botenfrau jeden Sonnabend ein immer größeres Dennoch blieben die Aufsätze des Herrn Pastor nicht ohne Wirkung. Und Grenzboten IV 1896 30
Skizzen aus unserm heutigen Volksleben Unsre Stimme ist auch nicht ungehört verklungen. Haben Sie schon die Rede Pogge gab die Zeitung herüber. Sie war so zerschnitten, daß sie aussah, Der Herr Pastor wunderte sich sehr. Er hätte nicht gedacht, daß das Nimziger Herr Stadtrat, sagte Pogge, da müssen wir aber doch den Artikel von Philipp¬ Ich dächte gar! erwiderte der Herr Stadtrat. Kümmern Sie sich doch nicht So erschien denn die nächste Nummer unter christlich-sozialer Beeinflussung, Herr Lamm las sein Blatt mit Wohlgefallen. Er fühlte die Befriedigung Inzwischen brachte die Botenfrau jeden Sonnabend ein immer größeres Dennoch blieben die Aufsätze des Herrn Pastor nicht ohne Wirkung. Und Grenzboten IV 1896 30
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Skizzen aus unserm heutigen Volksleben
Unsre Stimme ist auch nicht ungehört verklungen. Haben Sie schon die Rede
Marschalls in der Dienstagssitzung des Reichstags gelesen? Nicht? Pogge, geben
Sie mal die Nationalzeitung her.
Pogge gab die Zeitung herüber. Sie war so zerschnitten, daß sie aussah,
wie eine Wanderfahne beim Mädchenlaufen. Man suchte die Stelle, aber sie war
schon herausgeschnitten und befand sich bereits in der Druckerei. Schadet nichts,
sagte Herr Lamm, Sie werden es ja lesen. Ich sage Ihnen, eine direkte Antwort
auf unsre Forderungen.
Der Herr Pastor wunderte sich sehr. Er hätte nicht gedacht, daß das Nimziger
Kreisblatt eine solche Bedeutung habe. Um so glücklicher mußte er sich schätzen,
wenn es ihm gelang, diese Kraft für den Dienst der christlich-sozialen Arbeit zu
gewinnen. Er trug also sein Anliegen vor und fand überraschend viel Verständnis
bei Herrn Lamm und überraschend schnelles Entgegenkommen. Von Honorar
wurde natürlich uicht geredet. Herr Lamm erklärte es für eine Ehrenpflicht des
Kreisblattes, alle Bestrebungen zu unterstützen, die dem vielleicht doch möglichen
Umsturz aller Vermögensverhältnisse entgegenwirken konnten. Wenn es die Kirche
unternehme, die arbeitende Bevölkerung zur Geduld zu ernähren, so sei ihm das
ein durchaus sympathischer Gedanke. Nur den einen Wunsch hatte er, daß der
Herr Pastor nicht mehr als drei Spalten beanspruchen möchte. Er versprach auch
eiuen der Aufsätze, deu „über die soziale Frage und das Christentum," gleich in
der nächsten Nummer abzudrucken. So schied man von einander, beiderseits sehr
befriedigt.
Herr Stadtrat, sagte Pogge, da müssen wir aber doch den Artikel von Philipp¬
sohn über Schulze-Delitzsch wieder ablegen lassen.
Ich dächte gar! erwiderte der Herr Stadtrat. Kümmern Sie sich doch nicht
um Dinge, die Sie nichts angehen.
So erschien denn die nächste Nummer unter christlich-sozialer Beeinflussung,
das heißt im Hauptblatte stand ein Aufsatz, worin das eherne Lohngesetz als das
Gesetz und Schulze-Delitzsch als der Heiland hingestellt wurde, und im Beiblatt
stand der Aufsatz von Pastor Schlehmil, worin Schulze-Delitzsch als Stümper be¬
zeichnet und die christliche Weltanschauung als das Heil gepriesen wurde.
Herr Lamm las sein Blatt mit Wohlgefallen. Er fühlte die Befriedigung
des Geschäftsmanns, dem es gelungen ist, allen Wünschen gerecht zu werden. Mit
gleichem Wohlgefallen las der Herr Pastor seinen Aufsatz. Er erwartete von ihm
eine große Wirkung auf das Volk, es stand ihm außer Frage, daß die Stimme
der Wahrheit gehört werde» würde und müßte. Die gute Sache hatte durch deu
Eintritt einer wohlberatueu Presse in den Kampf eine wesentliche Hilfe erfahren.
In diesem Sinne berichtete er an den Hauptverein für christlich-soziale Bestrebungen,
der in der nächsten Nummer seines Vereinsblattes gebührend davon Notiz nahm
und nicht verfehlte, die rührige Arbeit im Kreise Nimzig andern trägen Gegenden
zum Vorbilde aufzustellen.
Inzwischen brachte die Botenfrau jeden Sonnabend ein immer größeres
Packet Zeitungen mit ins Dorf. Es war der soziale Sonntagsbvte, ein Blatt, das
heimlich verteilt und mit Eifer gelesen wurde. Es kostete ja nichts.
Dennoch blieben die Aufsätze des Herrn Pastor nicht ohne Wirkung. Und
diese Wirkung äußerte sich an ihm selbst. Von seinem Eifer und dem Beifall be¬
freundeter Kreise getrieben, versenkte er sich immer tiefer in das Studium der
sozialen Frage. Die Gerechtigkeit forderte es, auch die Meinung der Gegner
kennen zu lernen. Er las sozialdemokratische Blätter und fand, nachdem er gelernt
Grenzboten IV 1896 30
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