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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Lrlebtes und Beobachtetes aus Rußland

zichtet; an Stelle des Helens ist die kleidsame Fellmütze getreten, der grüne
Waffenrock hat sich den Formen der Nationaltracht angepaßt, die Knöpfe sind
weggefallen, was bei Paraden namentlich der Infanterie etwas eintönig dunkles
giebt. Nur das Petersburger Pagenkorps trägt noch die Pickelhaube und ist
nach altpreußischen Muster uniformirt. Am meisten "preußisch" sehen die
Offiziere noch im Jnterimsrock aus, nur ist da alles mehr ins Breite gezogen,
die Achselstücke sind fast handbreit, der Mützendeckel ist von gewaltiger Aus¬
dehnung. An Preußen erinnern auch sonst manche Einzelheiten der Unifor-
mirung, so der schwarze Sammetkragen mit Gold bei der Artillerie, mit Silber
beim Jngenicnrkorps u. dergl. Dafür haben wir den neueingeführten grauen
Mantel offenbar dem russischen Vorbilde nachgeahmt. Ganz "preußischen"
Eindruck macht die Gardekavallerie. Die Linienkavallerie ist neuerdings ein¬
heitlich uniformirt worden, die Husaren usw. sind weggefallen, die gesamte
Kavallerie besteht nur noch aus Dragonerregimentern. Nur die Kosaken haben
ihre eigentümliche Organisation behalten (der Kosak stellt sich mit seinein Pferde
zum Dienst), als wären sie mehr ein Hilfsvolk als reguläre Truppen.

Dieses Durcheinanderwogen von westeuropäischen Zivilisten und Uniformen
aller Art, von Bauern und Kaufleuten in der russischen Tracht bietet auf den
Straßen ein abwechslungsreiches Bild. Dazwischen sieht man bisweilen einen
Popen im langwallenden, lcmgärmligen Gewand, die Haare über den halben
Rücken hinabhängend, auf dem Kopf einen breitkrempigen Hut. Hie und da
fallen einem auch Asiaten auf mit geschlitzte" Augen, oft in der wunderlichen
Tracht ihrer Heimat; in Petersburg sind solche schlitzäugige Gesellen, aber in
europäischer Tracht, überall zu sehen, uur sind es dort meist harmlose Finnen,
die diesen mongolischen Typus zeigen. Auch Armeniern begegnet man in den
Hauptstädten vielfach, widerlichen Kerlen; die Frauen sind freilich oft von einer
gewissen Schönheit, sie haben die berühmten mandelförmigen, dunkeln Augen,
sind aber meist unangenehm bunt gekleidet. Ab und zu, aber nicht so häufig,
wie man nach manchen Schilderungen erwarten sollte, erblickt man auch
Kaukasier und Tscherkessen, sehnige, hagere Gestalten mit mächtigen Adlernasen
und kühnen Schnurbärten.

Noch eine Gruppe von Menschen darf ich nicht unerwähnt lassen, die auf
den Straßen ihr Wesen treibt: die Bettler. In Petersburg wird versucht, das
Übel auszurotten; was dieser Versuch bedeuten will, geht aus einer Zeitungs¬
notiz hervor, die mir zufällig zu Gesicht kam; darnach waren an einem Tage
389 Bettler aufgegriffen worden. Eine andre Zeitungsnachricht lautete:
"856 Personen sind in der Woche vom 15. bis zum 21. April in sinnlos
trunknem Zustande auf den Straßen der Residenz aufgegriffen und zur Er¬
nüchterung in die betreffenden Polizeihäuser abgeliefert worden." In Moskau
hat man noch nicht den Versuch gemacht, sich der Bettler zu erwehren; soweit
waren die "Reformen" Wlassowskis noch nicht gediehen. Die Bettelei ist dort


Lrlebtes und Beobachtetes aus Rußland

zichtet; an Stelle des Helens ist die kleidsame Fellmütze getreten, der grüne
Waffenrock hat sich den Formen der Nationaltracht angepaßt, die Knöpfe sind
weggefallen, was bei Paraden namentlich der Infanterie etwas eintönig dunkles
giebt. Nur das Petersburger Pagenkorps trägt noch die Pickelhaube und ist
nach altpreußischen Muster uniformirt. Am meisten „preußisch" sehen die
Offiziere noch im Jnterimsrock aus, nur ist da alles mehr ins Breite gezogen,
die Achselstücke sind fast handbreit, der Mützendeckel ist von gewaltiger Aus¬
dehnung. An Preußen erinnern auch sonst manche Einzelheiten der Unifor-
mirung, so der schwarze Sammetkragen mit Gold bei der Artillerie, mit Silber
beim Jngenicnrkorps u. dergl. Dafür haben wir den neueingeführten grauen
Mantel offenbar dem russischen Vorbilde nachgeahmt. Ganz „preußischen"
Eindruck macht die Gardekavallerie. Die Linienkavallerie ist neuerdings ein¬
heitlich uniformirt worden, die Husaren usw. sind weggefallen, die gesamte
Kavallerie besteht nur noch aus Dragonerregimentern. Nur die Kosaken haben
ihre eigentümliche Organisation behalten (der Kosak stellt sich mit seinein Pferde
zum Dienst), als wären sie mehr ein Hilfsvolk als reguläre Truppen.

Dieses Durcheinanderwogen von westeuropäischen Zivilisten und Uniformen
aller Art, von Bauern und Kaufleuten in der russischen Tracht bietet auf den
Straßen ein abwechslungsreiches Bild. Dazwischen sieht man bisweilen einen
Popen im langwallenden, lcmgärmligen Gewand, die Haare über den halben
Rücken hinabhängend, auf dem Kopf einen breitkrempigen Hut. Hie und da
fallen einem auch Asiaten auf mit geschlitzte» Augen, oft in der wunderlichen
Tracht ihrer Heimat; in Petersburg sind solche schlitzäugige Gesellen, aber in
europäischer Tracht, überall zu sehen, uur sind es dort meist harmlose Finnen,
die diesen mongolischen Typus zeigen. Auch Armeniern begegnet man in den
Hauptstädten vielfach, widerlichen Kerlen; die Frauen sind freilich oft von einer
gewissen Schönheit, sie haben die berühmten mandelförmigen, dunkeln Augen,
sind aber meist unangenehm bunt gekleidet. Ab und zu, aber nicht so häufig,
wie man nach manchen Schilderungen erwarten sollte, erblickt man auch
Kaukasier und Tscherkessen, sehnige, hagere Gestalten mit mächtigen Adlernasen
und kühnen Schnurbärten.

Noch eine Gruppe von Menschen darf ich nicht unerwähnt lassen, die auf
den Straßen ihr Wesen treibt: die Bettler. In Petersburg wird versucht, das
Übel auszurotten; was dieser Versuch bedeuten will, geht aus einer Zeitungs¬
notiz hervor, die mir zufällig zu Gesicht kam; darnach waren an einem Tage
389 Bettler aufgegriffen worden. Eine andre Zeitungsnachricht lautete:
„856 Personen sind in der Woche vom 15. bis zum 21. April in sinnlos
trunknem Zustande auf den Straßen der Residenz aufgegriffen und zur Er¬
nüchterung in die betreffenden Polizeihäuser abgeliefert worden." In Moskau
hat man noch nicht den Versuch gemacht, sich der Bettler zu erwehren; soweit
waren die „Reformen" Wlassowskis noch nicht gediehen. Die Bettelei ist dort


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/230>, abgerufen am 08.01.2025.