Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Line Geschichte der Juden mehr wundert. Wohl mögen die Juden unsre germanischen Väter in der Line Geschichte der Juden mehr wundert. Wohl mögen die Juden unsre germanischen Väter in der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0226" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223810"/> <fw type="header" place="top"> Line Geschichte der Juden</fw><lb/> <p xml:id="ID_656" prev="#ID_655" next="#ID_657"> mehr wundert. Wohl mögen die Juden unsre germanischen Väter in der<lb/> Unsauberkeit noch übertroffen haben, aber nicht diese Unsauberkeit, sondern<lb/> wirkliche böswillige Vergiftung hat man bei den damaligen Beschuldigungen<lb/> im Sinne gehabt. Über die Ritualmorde haben wir oben in einer Anmerkung<lb/> eine Vermutung ausgesprochen. Es ist aber auch sehr wohl möglich, daß<lb/> grausame Abschlachtungen von Christenkindern vorgekommen sind, nicht als<lb/> Nitualhandlungen, sondern aus Mordlust und Nachsucht. Es wäre wunder¬<lb/> bar, wenn sich die Phantasie der Juden, die so oft Opfer grausamer Metzeleien<lb/> und Zeugen empörender Henkerszencn waren, nicht mit abscheulichen Bildern<lb/> angefüllt und wenn sie nicht auf den Gedanken verfallen wären, durch Nach¬<lb/> ahmung des Gesehenen ihre Nachsucht zu befriedigen und zugleich die in ihnen<lb/> erwachte Wollust der Grausamkeit zu kosten. In Zeiten, wo eine sogenannte<lb/> Justiz die berufsmäßigen Verbrecher in der Grausamkeit noch übertrifft,<lb/> kann man sich höchstens darüber wundern, daß nicht alle Unterthanen berufs¬<lb/> mäßige Verbrecher werden. Diese Judengeschichten sind also weder allesamt<lb/> kritiklos zu glauben, noch einfach als alberne Märchen von der Hand zu weisen.<lb/> Ist doch dieser Tage erst in der Verhandlung eines Berliner Gerichtshofs<lb/> gegen einen antisemitischen Redakteur festgestellt worden, daß der jüdische<lb/> Schlächter Jsaak Bonn in Eleve zum Verkauf an Christen bestimmtes Fleisch<lb/> in ekelhafter Weise besudelt hat, womit zugleich eine der häufigsten An¬<lb/> schuldigungen, die im Mittelalter gegen die Juden erhoben zu werden pflegte<lb/> erwiesen scheint. Aber die wahrscheinlich vergebliche Mühe, in jedem einzelnen<lb/> Falle herauszubekommen, was an der Sache wahres ist, können sich die<lb/> Forscher ersparen, denn es ist ganz gleichgiltig, ob zu den notorischen Scheu߬<lb/> lichkeiten, die sich gegen Ende des Mittelalters häufen, und die im siebzehnten<lb/> Jahrhundert nach Art und Zahl alles Maß übersteigen, noch einige hundert<lb/> oder tausend von Juden begangne kommen oder nicht. Worauf es ankommt,<lb/> daß ist die Erkenntnis der Wechselwirkung zwischen Strafe und Verbrechen, wobei<lb/> die Strafen besonders dann neue Verbrechen auszubrüten Pflegen, wenn sie<lb/> über sogenannte Verbrechen verhängt werden, die, wie Ketzerei und Hexerei,<lb/> gar keine Verbrechen sind, oder über Menschen, deren Verbrechen nicht erwiesen<lb/> sind, und denen das Geständnis auf der Folter ausgepreßt wird. In einer<lb/> sächsischen landwirtschaftlichen Zeitung lasen wir neulich einen Artikel über die<lb/> Erziehung der Bullen. Darin hieß es unter andern: vor allem sei darauf zu<lb/> achten, daß der Bullenknabe und Jüngling fromm werde und bleibe. Deshalb<lb/> müsse man ihn von Kindheit auf liebreich und freundlich behandeln und dürfe ihm ja<lb/> keinen rohen Wärter geben; rohe Wärter und böse Bullen finde man immer<lb/> beisammen. Und gestern lasen wir in einer andern landwirtschaftlichen Zeitung<lb/> Anweisungen zur Erziehung der Füllen. Nicht erschrecken, nicht necken, nicht<lb/> reizen, nicht ärgern, nur freundlich und sanft anreden, streicheln, Zucker reichen,<lb/> darauf lief die Pferdepädagogik hinaus; beobachte man diese Regeln nicht, so</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0226]
Line Geschichte der Juden
mehr wundert. Wohl mögen die Juden unsre germanischen Väter in der
Unsauberkeit noch übertroffen haben, aber nicht diese Unsauberkeit, sondern
wirkliche böswillige Vergiftung hat man bei den damaligen Beschuldigungen
im Sinne gehabt. Über die Ritualmorde haben wir oben in einer Anmerkung
eine Vermutung ausgesprochen. Es ist aber auch sehr wohl möglich, daß
grausame Abschlachtungen von Christenkindern vorgekommen sind, nicht als
Nitualhandlungen, sondern aus Mordlust und Nachsucht. Es wäre wunder¬
bar, wenn sich die Phantasie der Juden, die so oft Opfer grausamer Metzeleien
und Zeugen empörender Henkerszencn waren, nicht mit abscheulichen Bildern
angefüllt und wenn sie nicht auf den Gedanken verfallen wären, durch Nach¬
ahmung des Gesehenen ihre Nachsucht zu befriedigen und zugleich die in ihnen
erwachte Wollust der Grausamkeit zu kosten. In Zeiten, wo eine sogenannte
Justiz die berufsmäßigen Verbrecher in der Grausamkeit noch übertrifft,
kann man sich höchstens darüber wundern, daß nicht alle Unterthanen berufs¬
mäßige Verbrecher werden. Diese Judengeschichten sind also weder allesamt
kritiklos zu glauben, noch einfach als alberne Märchen von der Hand zu weisen.
Ist doch dieser Tage erst in der Verhandlung eines Berliner Gerichtshofs
gegen einen antisemitischen Redakteur festgestellt worden, daß der jüdische
Schlächter Jsaak Bonn in Eleve zum Verkauf an Christen bestimmtes Fleisch
in ekelhafter Weise besudelt hat, womit zugleich eine der häufigsten An¬
schuldigungen, die im Mittelalter gegen die Juden erhoben zu werden pflegte
erwiesen scheint. Aber die wahrscheinlich vergebliche Mühe, in jedem einzelnen
Falle herauszubekommen, was an der Sache wahres ist, können sich die
Forscher ersparen, denn es ist ganz gleichgiltig, ob zu den notorischen Scheu߬
lichkeiten, die sich gegen Ende des Mittelalters häufen, und die im siebzehnten
Jahrhundert nach Art und Zahl alles Maß übersteigen, noch einige hundert
oder tausend von Juden begangne kommen oder nicht. Worauf es ankommt,
daß ist die Erkenntnis der Wechselwirkung zwischen Strafe und Verbrechen, wobei
die Strafen besonders dann neue Verbrechen auszubrüten Pflegen, wenn sie
über sogenannte Verbrechen verhängt werden, die, wie Ketzerei und Hexerei,
gar keine Verbrechen sind, oder über Menschen, deren Verbrechen nicht erwiesen
sind, und denen das Geständnis auf der Folter ausgepreßt wird. In einer
sächsischen landwirtschaftlichen Zeitung lasen wir neulich einen Artikel über die
Erziehung der Bullen. Darin hieß es unter andern: vor allem sei darauf zu
achten, daß der Bullenknabe und Jüngling fromm werde und bleibe. Deshalb
müsse man ihn von Kindheit auf liebreich und freundlich behandeln und dürfe ihm ja
keinen rohen Wärter geben; rohe Wärter und böse Bullen finde man immer
beisammen. Und gestern lasen wir in einer andern landwirtschaftlichen Zeitung
Anweisungen zur Erziehung der Füllen. Nicht erschrecken, nicht necken, nicht
reizen, nicht ärgern, nur freundlich und sanft anreden, streicheln, Zucker reichen,
darauf lief die Pferdepädagogik hinaus; beobachte man diese Regeln nicht, so
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