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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Line Geschichte der Juden

so denkt man andrerseits unwillkürlich an den Ausspruch eines englischen
Staatsmanns: "'s ist doch merkwürdig, so oft bei uns das Rindfleisch ab¬
schlägt, bricht auf dem Festlande die Rinderpest aus." Was nun die gegen'
Juden erhobnen Vorwürfe -- abgesehen vom Wucher -- anlangt, so sind die
Charakterschilderungen, die man von den spätmittelnlterlichen und den Juden
unsrer Zeit bis zur Emanzipation entworfen hat, ohne Zweifel richtig; unter
den Verhältnissen, in denen diese Juden lebten, konnte sich, wie oft ausgeführt
worden ist, kein andrer Charakter entwickeln. Ein sehr abschreckendes Charakter¬
bild hat die württembergische Negierung gezeichnet in der Begründung
des Entwurfs eines Emanzipationsgesetzes, den sie 1828 den Stünden vor¬
legte; sie hielt die Aufhebung der Beschränkungen eben für notwendig, um
eine Änderung des verdorbnen Judencharakters anzubahnen. Das Volk dachte
darüber anders, und der Ulmer Handels- und Gewerbestand protestirte -- aller¬
dings vergebens -- gegen den Entwurf. In seiner Eingabe schlug er als den
einzigen richtigen Weg zur Lösung der Judenfrage die Ansiedlung der Juden
in eignen Kolonien vor, wo sie gleich den Quäkern und Herrnhutern ihre
eigne Gemeindeverfassung und ihre eignen Unterrichtsanstalten haben und durch
Betreibung des Ackerbaues und aller unentbehrlichen Handwerke für die Be¬
friedigung aller ihrer Bedürfnisse selbst würden sorgen müssen. Auch uns
scheint dieser Weg der richtige zu sein, aber da er in der Zeit, wo man noch
die Wahl hatte, nicht beschritten worden ist, lohnt es kaum der Mühe, ihn
heute, wo man keine Wahl mehr hat, noch weiter zu erörtern. Die Erlaubnis
zum Betreiben der Handwerke hat den Juden die französische Regierung wieder¬
holt erteilt; wenn sie davon keinen Gebrauch gemacht haben, so können daran
ebenso wohl ihre Abneigung und Unfähigkeit schuld gewesen sein, wie die Hinder¬
nisse, die ihnen wahrscheinlich die christlichen Zunftmeister bei jedem Versuche
bereitet haben. Vom Ackerbau aber konnte keine Rede sein, da ihnen ja
meistens der Erwerb von Grundbesitz verboten war. Die Darstellung der Be¬
rechtigung oder Nichtberechtigung der Juden zum Bodeuerwerb gehört zu den
allerverwirrtesten in Nübliugs Buche; bald liest man, daß sie die schönsten
und die meisten Häuser in einer Stadt gehabt haben, bald, daß sie keinen Grund¬
besitz erwerben durften, aber weder über die Ausdehnung dieser Verbote erfährt
man etwas, noch über die Änderungen der Gesetzgebungen in diesem Punkte.
Was dann die den Juden vorgeworfnen eigentümlichen Verbrechen anlangt, so
giebt Nübling über die Ritualmordgeschichten, die er mitteilt, kein eignes Ur¬
teil ab; in Beziehung auf die Brnnnenvergiftnng aber meint er, bei der großen
Unreinlichkeit der Juden sei der Verdacht, daß sie durch Verunreinigung des
Wassers ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, nicht unbegründet. Die Un¬
reinlichkeit war aber bekanntlich im Mittelalter eine so allgemeine Untugend,
daß sich heute, wo man die Bedingungen der Gesundheit und die Ursachen
der Krankheiten kennt, über die mörderischen Epidemien jener Zeit niemand


Grenzboten IV 18S6 28
Line Geschichte der Juden

so denkt man andrerseits unwillkürlich an den Ausspruch eines englischen
Staatsmanns: „'s ist doch merkwürdig, so oft bei uns das Rindfleisch ab¬
schlägt, bricht auf dem Festlande die Rinderpest aus." Was nun die gegen'
Juden erhobnen Vorwürfe — abgesehen vom Wucher — anlangt, so sind die
Charakterschilderungen, die man von den spätmittelnlterlichen und den Juden
unsrer Zeit bis zur Emanzipation entworfen hat, ohne Zweifel richtig; unter
den Verhältnissen, in denen diese Juden lebten, konnte sich, wie oft ausgeführt
worden ist, kein andrer Charakter entwickeln. Ein sehr abschreckendes Charakter¬
bild hat die württembergische Negierung gezeichnet in der Begründung
des Entwurfs eines Emanzipationsgesetzes, den sie 1828 den Stünden vor¬
legte; sie hielt die Aufhebung der Beschränkungen eben für notwendig, um
eine Änderung des verdorbnen Judencharakters anzubahnen. Das Volk dachte
darüber anders, und der Ulmer Handels- und Gewerbestand protestirte — aller¬
dings vergebens — gegen den Entwurf. In seiner Eingabe schlug er als den
einzigen richtigen Weg zur Lösung der Judenfrage die Ansiedlung der Juden
in eignen Kolonien vor, wo sie gleich den Quäkern und Herrnhutern ihre
eigne Gemeindeverfassung und ihre eignen Unterrichtsanstalten haben und durch
Betreibung des Ackerbaues und aller unentbehrlichen Handwerke für die Be¬
friedigung aller ihrer Bedürfnisse selbst würden sorgen müssen. Auch uns
scheint dieser Weg der richtige zu sein, aber da er in der Zeit, wo man noch
die Wahl hatte, nicht beschritten worden ist, lohnt es kaum der Mühe, ihn
heute, wo man keine Wahl mehr hat, noch weiter zu erörtern. Die Erlaubnis
zum Betreiben der Handwerke hat den Juden die französische Regierung wieder¬
holt erteilt; wenn sie davon keinen Gebrauch gemacht haben, so können daran
ebenso wohl ihre Abneigung und Unfähigkeit schuld gewesen sein, wie die Hinder¬
nisse, die ihnen wahrscheinlich die christlichen Zunftmeister bei jedem Versuche
bereitet haben. Vom Ackerbau aber konnte keine Rede sein, da ihnen ja
meistens der Erwerb von Grundbesitz verboten war. Die Darstellung der Be¬
rechtigung oder Nichtberechtigung der Juden zum Bodeuerwerb gehört zu den
allerverwirrtesten in Nübliugs Buche; bald liest man, daß sie die schönsten
und die meisten Häuser in einer Stadt gehabt haben, bald, daß sie keinen Grund¬
besitz erwerben durften, aber weder über die Ausdehnung dieser Verbote erfährt
man etwas, noch über die Änderungen der Gesetzgebungen in diesem Punkte.
Was dann die den Juden vorgeworfnen eigentümlichen Verbrechen anlangt, so
giebt Nübling über die Ritualmordgeschichten, die er mitteilt, kein eignes Ur¬
teil ab; in Beziehung auf die Brnnnenvergiftnng aber meint er, bei der großen
Unreinlichkeit der Juden sei der Verdacht, daß sie durch Verunreinigung des
Wassers ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, nicht unbegründet. Die Un¬
reinlichkeit war aber bekanntlich im Mittelalter eine so allgemeine Untugend,
daß sich heute, wo man die Bedingungen der Gesundheit und die Ursachen
der Krankheiten kennt, über die mörderischen Epidemien jener Zeit niemand


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[0225] Line Geschichte der Juden so denkt man andrerseits unwillkürlich an den Ausspruch eines englischen Staatsmanns: „'s ist doch merkwürdig, so oft bei uns das Rindfleisch ab¬ schlägt, bricht auf dem Festlande die Rinderpest aus." Was nun die gegen' Juden erhobnen Vorwürfe — abgesehen vom Wucher — anlangt, so sind die Charakterschilderungen, die man von den spätmittelnlterlichen und den Juden unsrer Zeit bis zur Emanzipation entworfen hat, ohne Zweifel richtig; unter den Verhältnissen, in denen diese Juden lebten, konnte sich, wie oft ausgeführt worden ist, kein andrer Charakter entwickeln. Ein sehr abschreckendes Charakter¬ bild hat die württembergische Negierung gezeichnet in der Begründung des Entwurfs eines Emanzipationsgesetzes, den sie 1828 den Stünden vor¬ legte; sie hielt die Aufhebung der Beschränkungen eben für notwendig, um eine Änderung des verdorbnen Judencharakters anzubahnen. Das Volk dachte darüber anders, und der Ulmer Handels- und Gewerbestand protestirte — aller¬ dings vergebens — gegen den Entwurf. In seiner Eingabe schlug er als den einzigen richtigen Weg zur Lösung der Judenfrage die Ansiedlung der Juden in eignen Kolonien vor, wo sie gleich den Quäkern und Herrnhutern ihre eigne Gemeindeverfassung und ihre eignen Unterrichtsanstalten haben und durch Betreibung des Ackerbaues und aller unentbehrlichen Handwerke für die Be¬ friedigung aller ihrer Bedürfnisse selbst würden sorgen müssen. Auch uns scheint dieser Weg der richtige zu sein, aber da er in der Zeit, wo man noch die Wahl hatte, nicht beschritten worden ist, lohnt es kaum der Mühe, ihn heute, wo man keine Wahl mehr hat, noch weiter zu erörtern. Die Erlaubnis zum Betreiben der Handwerke hat den Juden die französische Regierung wieder¬ holt erteilt; wenn sie davon keinen Gebrauch gemacht haben, so können daran ebenso wohl ihre Abneigung und Unfähigkeit schuld gewesen sein, wie die Hinder¬ nisse, die ihnen wahrscheinlich die christlichen Zunftmeister bei jedem Versuche bereitet haben. Vom Ackerbau aber konnte keine Rede sein, da ihnen ja meistens der Erwerb von Grundbesitz verboten war. Die Darstellung der Be¬ rechtigung oder Nichtberechtigung der Juden zum Bodeuerwerb gehört zu den allerverwirrtesten in Nübliugs Buche; bald liest man, daß sie die schönsten und die meisten Häuser in einer Stadt gehabt haben, bald, daß sie keinen Grund¬ besitz erwerben durften, aber weder über die Ausdehnung dieser Verbote erfährt man etwas, noch über die Änderungen der Gesetzgebungen in diesem Punkte. Was dann die den Juden vorgeworfnen eigentümlichen Verbrechen anlangt, so giebt Nübling über die Ritualmordgeschichten, die er mitteilt, kein eignes Ur¬ teil ab; in Beziehung auf die Brnnnenvergiftnng aber meint er, bei der großen Unreinlichkeit der Juden sei der Verdacht, daß sie durch Verunreinigung des Wassers ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, nicht unbegründet. Die Un¬ reinlichkeit war aber bekanntlich im Mittelalter eine so allgemeine Untugend, daß sich heute, wo man die Bedingungen der Gesundheit und die Ursachen der Krankheiten kennt, über die mörderischen Epidemien jener Zeit niemand Grenzboten IV 18S6 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/225>, abgerufen am 08.01.2025.