Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Line Geschichte der Juden schlagen und ihre Güter rauben, sondern die Landesherren und die Stadt¬ Im allgemeinen erscheinen die Judenverfolgungen als Ausbrüche des *) Erhebt sich der Tiber gegen die Stadtmauern, unterläßt der Nil seine Ufer zu über¬
steigen, ist der Himmel wolkenleer, bebt die Erde, wütet eine Seuche, sogleich schreit man: die Christen vor die Löwen! '->' ,> > Line Geschichte der Juden schlagen und ihre Güter rauben, sondern die Landesherren und die Stadt¬ Im allgemeinen erscheinen die Judenverfolgungen als Ausbrüche des *) Erhebt sich der Tiber gegen die Stadtmauern, unterläßt der Nil seine Ufer zu über¬
steigen, ist der Himmel wolkenleer, bebt die Erde, wütet eine Seuche, sogleich schreit man: die Christen vor die Löwen! '->' ,> > <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0224" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223808"/> <fw type="header" place="top"> Line Geschichte der Juden</fw><lb/> <p xml:id="ID_653" prev="#ID_652"> schlagen und ihre Güter rauben, sondern die Landesherren und die Stadt¬<lb/> magistrate, die sich der Juden bei ihren Finanzoperationen, d. h. auf deutsch<lb/> zur Ausbeutung des arbeitenden Volks bedienen. Lamprecht hat bei der Dar¬<lb/> stellung der Kurtrierschen Finanzverwaltung im dreizehnten Jahrhundert dieses<lb/> Verfahren kurz mit den Worten charakterisirt: „ein raffinirt durchdachtes<lb/> System, den Juden das Odium des Wuchertreibens zu überlassen, den Vorteil<lb/> der Wucherfrüchte aber selbst nach Belieben einzuheimsen." ^Deutsches Wirt¬<lb/> schaftsleben im Mittelalter I. S. 1477.) Man sieht auch bei Nübling: es<lb/> ist ein ewiges Anziehen und Abstoßen, Vollsaugenlassen und Ausquetschen.<lb/> Städte bitten sich bald die Erlaubnis aus, Juden halten zu dürfen, bald die<lb/> Erlaubnis, sich ihrer Juden zu entledigen; Landesherren, Könige treiben sie aus,<lb/> und nach ein paar Jahren rufen sie sie wieder zurück. Natürlich werden sie<lb/> niemals ungerupft fortgelassen. Man weiß wohl, wie es auch den christlichen<lb/> Geldhündlern, den Lombarden und Florentinern, oft nicht viel besser ergangen<lb/> ist. Der berühmteste Fall ist die Zahlungseinstellung König Eduards III. von<lb/> England am 6. Mai 1339, wodurch die Bardi und die Peruzzi zusammen<lb/> 1355000 Goldfloren verloren, „den Preis eines Königreichs," wie Villani<lb/> schreibt, der dabei selbst mit vielen seiner Mitbürger sein Vermögen einbüßte.<lb/> Aber mit den Juden machte man doch für gewöhnlich noch weniger Umstände<lb/> als mit Mailändern, Venetianern oder Florentinern, die immerhin einen wenn<lb/> auch kleinen, so doch nicht einflußloser und nicht ganz wehrlosen Staat hinter<lb/> sich hatten. Auch Friedrich der Große behandelte die Juden noch ganz nach<lb/> fiskalischen Grundsätzen, nur daß er der Milde der Zeit und seiner eignen<lb/> Milde und Neigung zum Humor entsprechend dabei verfuhr, indem er u. a.<lb/> bestimmte, daß ihm bei jeder Judenhochzeit für dreihundert Thaler Porzellan<lb/> abgekauft werden mußte.</p><lb/> <p xml:id="ID_654" next="#ID_655"> Im allgemeinen erscheinen die Judenverfolgungen als Ausbrüche des<lb/> Volksunwillens und die Obrigkeiten als Beschützer der Juden. Aber die Obrig¬<lb/> keiten schützten eben ihre Juden nur als Aussaugungsobjekte oder Aussaugungs-<lb/> instrumente, und die Verfolgungen mögen oft mittelbar von ihnen verursacht<lb/> worden sein, indem sie die Erbitterung des Volks über Steuerdruck und un¬<lb/> befriedigende soziale Verhältnisse auf die Juden abzulenken verstanden. Auch<lb/> der heutigen antisemitischen Bewegung gegenüber haben die Regierungen und<lb/> Behörden nicht selten eine recht zweideutige Rolle gespielt. Der Abschlachtung<lb/> und Plünderung gingen gewöhnlich Klagen über Brunnenvergiftung und Ritual-<lb/> morde vorher, und wenn dieser Zusammenhang zwischen Volksnot und Judeu-<lb/> unthaten einerseits an einen Satz aus der Apologie des Tertullian erinnert"),</p><lb/> <note xml:id="FID_37" place="foot"> *) Erhebt sich der Tiber gegen die Stadtmauern, unterläßt der Nil seine Ufer zu über¬<lb/> steigen, ist der Himmel wolkenleer, bebt die Erde, wütet eine Seuche, sogleich schreit man: die<lb/> Christen vor die Löwen! '->' ,> ></note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0224]
Line Geschichte der Juden
schlagen und ihre Güter rauben, sondern die Landesherren und die Stadt¬
magistrate, die sich der Juden bei ihren Finanzoperationen, d. h. auf deutsch
zur Ausbeutung des arbeitenden Volks bedienen. Lamprecht hat bei der Dar¬
stellung der Kurtrierschen Finanzverwaltung im dreizehnten Jahrhundert dieses
Verfahren kurz mit den Worten charakterisirt: „ein raffinirt durchdachtes
System, den Juden das Odium des Wuchertreibens zu überlassen, den Vorteil
der Wucherfrüchte aber selbst nach Belieben einzuheimsen." ^Deutsches Wirt¬
schaftsleben im Mittelalter I. S. 1477.) Man sieht auch bei Nübling: es
ist ein ewiges Anziehen und Abstoßen, Vollsaugenlassen und Ausquetschen.
Städte bitten sich bald die Erlaubnis aus, Juden halten zu dürfen, bald die
Erlaubnis, sich ihrer Juden zu entledigen; Landesherren, Könige treiben sie aus,
und nach ein paar Jahren rufen sie sie wieder zurück. Natürlich werden sie
niemals ungerupft fortgelassen. Man weiß wohl, wie es auch den christlichen
Geldhündlern, den Lombarden und Florentinern, oft nicht viel besser ergangen
ist. Der berühmteste Fall ist die Zahlungseinstellung König Eduards III. von
England am 6. Mai 1339, wodurch die Bardi und die Peruzzi zusammen
1355000 Goldfloren verloren, „den Preis eines Königreichs," wie Villani
schreibt, der dabei selbst mit vielen seiner Mitbürger sein Vermögen einbüßte.
Aber mit den Juden machte man doch für gewöhnlich noch weniger Umstände
als mit Mailändern, Venetianern oder Florentinern, die immerhin einen wenn
auch kleinen, so doch nicht einflußloser und nicht ganz wehrlosen Staat hinter
sich hatten. Auch Friedrich der Große behandelte die Juden noch ganz nach
fiskalischen Grundsätzen, nur daß er der Milde der Zeit und seiner eignen
Milde und Neigung zum Humor entsprechend dabei verfuhr, indem er u. a.
bestimmte, daß ihm bei jeder Judenhochzeit für dreihundert Thaler Porzellan
abgekauft werden mußte.
Im allgemeinen erscheinen die Judenverfolgungen als Ausbrüche des
Volksunwillens und die Obrigkeiten als Beschützer der Juden. Aber die Obrig¬
keiten schützten eben ihre Juden nur als Aussaugungsobjekte oder Aussaugungs-
instrumente, und die Verfolgungen mögen oft mittelbar von ihnen verursacht
worden sein, indem sie die Erbitterung des Volks über Steuerdruck und un¬
befriedigende soziale Verhältnisse auf die Juden abzulenken verstanden. Auch
der heutigen antisemitischen Bewegung gegenüber haben die Regierungen und
Behörden nicht selten eine recht zweideutige Rolle gespielt. Der Abschlachtung
und Plünderung gingen gewöhnlich Klagen über Brunnenvergiftung und Ritual-
morde vorher, und wenn dieser Zusammenhang zwischen Volksnot und Judeu-
unthaten einerseits an einen Satz aus der Apologie des Tertullian erinnert"),
*) Erhebt sich der Tiber gegen die Stadtmauern, unterläßt der Nil seine Ufer zu über¬
steigen, ist der Himmel wolkenleer, bebt die Erde, wütet eine Seuche, sogleich schreit man: die
Christen vor die Löwen! '->' ,> >
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