Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Die deutsche Auswanderung nach Brasilien widmet seinen Reben die sorgsamste Pflege, "rigolt" den Boden, um neue Die deutsche Auswanderung nach Brasilien widmet seinen Reben die sorgsamste Pflege, „rigolt" den Boden, um neue <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0214" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223798"/> <fw type="header" place="top"> Die deutsche Auswanderung nach Brasilien</fw><lb/> <p xml:id="ID_630" prev="#ID_629" next="#ID_631"> widmet seinen Reben die sorgsamste Pflege, „rigolt" den Boden, um neue<lb/> fruchtbare Erde zu gewinnen, und schleppt den roten Humus, den ihm ein<lb/> Wolkenbruch ins Thal geflößt hat, bei der größten Sonnenglut in seiner Bütte<lb/> wieder die steilen Weinbergstaffeln hinan. Wenn dann der Herbst kommt, reicht<lb/> der Ertrag oft kaum aus, die Zinsen der auf dem Gütchen lastenden Schuld<lb/> zu bezahlen, und wie selten bringt ihm ein ergiebiges Jahr den verdienten<lb/> Lohn für seine harte Arbeit! Meist haben aber diese Leute auch noch kleine<lb/> Grundstücke mit Korn, Obst und Gemüse in Besitz oder in Pacht, sodaß sich<lb/> auch die Armem bei ihrem äußerst sparsamen Leben in schlechten Jahren not¬<lb/> dürftig zu halten vermögen. An ein eigentliches Vorwärtskommen ist aber<lb/> bei den unnatürlich gesteigerten Bodenpreise» und der vielfach übertriebnen<lb/> Zerlegung der Grundstücke nicht zu denken, und wer Gelegenheit hat, einen<lb/> tiefern Einblick in die Verhältnisse zu thun, dem wird es nicht entgehen, daß<lb/> auf dem jüngern Geschlecht, auf jenen rüstigen jungen Männern, die sich, wenn<lb/> die ländliche Arbeit ihrer nicht bedarf, in den Städten zu allerhand Erd- und<lb/> Bauarbeiten verdingen, ein gewisser Druck lastet: das lähmende Gefühl, das<lb/> der Vergleich zwischen dem wirtschaftlichen Aufschwung und der viel größern<lb/> Möglichkeit des Erwerbs in der Stadt und der Gebundenheit ihrer eignen<lb/> Lage herbeiführen muß. Dabei ist in diesem Stande eine nicht zu unter¬<lb/> schätzende Intelligenz und Selbständigkeit des Denkens anzutreffen, der nur<lb/> der wünschenswerte Spielraum fehlt, sich zu bethätigen. In dieser Schicht des<lb/> schwäbischen Volkstums sind Kolonisten, wie sie nirgends besser zu finden sein<lb/> dürften. Man mag mit Recht die Leistungen der in Rio Grande do Sui in<lb/> den Schneisen des Urwalds hausenden Pommern und Westfalen hervorheben,<lb/> deren stattliche Ansiedlungen vorteilhaft von denen andrer Nationalitäten, der<lb/> Italiener, der Polen, der Luso-Brasilier abstechen; aber man wird zugeben<lb/> müssen, daß die Bauern dieser Stämme in der Regel keinen Beruf in sich ver¬<lb/> spüren, es in jenen an der Grenze der gemäßigten Zone gelegnen Gebieten<lb/> mit etwas anderm als Viehzucht und der Anpflanzung von Korn und einigen<lb/> andern Nährpflanzen, sowie des Tabaks als der einzigen „kouranten" Handels¬<lb/> pflanze zu versuchen. Der ausgewanderte schwäbische Weingürtner dagegen<lb/> wagt sich an alles, wie wir aus einer Reihe von bestimmten Fällen ersehen,<lb/> er pflanzt seine aus der alten Heimat mitgenommenen Neben auf vorsichtig<lb/> ausgewühlten Boden an, er läßt sich die Pflege der Obstbäume angelegen<lb/> sein, er wirft sich auf diese oder jene kleine Industrie, ohne dabei den Anbau<lb/> von Mais, Reis, Maudiok und Kartoffeln zu vernachlässigen — kurz, er legt<lb/> jene Rührigkeit an den Tag, die bei aller sonstigen Schwerfälligkeit, die seinem<lb/> Stamme anhaftet, gerade bei den Schwaben, die ihr „Lcindle" verlassen, sich<lb/> meist so vorteilhaft bemerklich macht. Der Schwabe steht ja bei andern<lb/> Stämmen vielfach in dem Rufe, ein besondres „Gscheitle" zu sein, besonders<lb/> der schwäbische Baier bei den Altbaiern, er weiß immer mehr als andre Leute</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0214]
Die deutsche Auswanderung nach Brasilien
widmet seinen Reben die sorgsamste Pflege, „rigolt" den Boden, um neue
fruchtbare Erde zu gewinnen, und schleppt den roten Humus, den ihm ein
Wolkenbruch ins Thal geflößt hat, bei der größten Sonnenglut in seiner Bütte
wieder die steilen Weinbergstaffeln hinan. Wenn dann der Herbst kommt, reicht
der Ertrag oft kaum aus, die Zinsen der auf dem Gütchen lastenden Schuld
zu bezahlen, und wie selten bringt ihm ein ergiebiges Jahr den verdienten
Lohn für seine harte Arbeit! Meist haben aber diese Leute auch noch kleine
Grundstücke mit Korn, Obst und Gemüse in Besitz oder in Pacht, sodaß sich
auch die Armem bei ihrem äußerst sparsamen Leben in schlechten Jahren not¬
dürftig zu halten vermögen. An ein eigentliches Vorwärtskommen ist aber
bei den unnatürlich gesteigerten Bodenpreise» und der vielfach übertriebnen
Zerlegung der Grundstücke nicht zu denken, und wer Gelegenheit hat, einen
tiefern Einblick in die Verhältnisse zu thun, dem wird es nicht entgehen, daß
auf dem jüngern Geschlecht, auf jenen rüstigen jungen Männern, die sich, wenn
die ländliche Arbeit ihrer nicht bedarf, in den Städten zu allerhand Erd- und
Bauarbeiten verdingen, ein gewisser Druck lastet: das lähmende Gefühl, das
der Vergleich zwischen dem wirtschaftlichen Aufschwung und der viel größern
Möglichkeit des Erwerbs in der Stadt und der Gebundenheit ihrer eignen
Lage herbeiführen muß. Dabei ist in diesem Stande eine nicht zu unter¬
schätzende Intelligenz und Selbständigkeit des Denkens anzutreffen, der nur
der wünschenswerte Spielraum fehlt, sich zu bethätigen. In dieser Schicht des
schwäbischen Volkstums sind Kolonisten, wie sie nirgends besser zu finden sein
dürften. Man mag mit Recht die Leistungen der in Rio Grande do Sui in
den Schneisen des Urwalds hausenden Pommern und Westfalen hervorheben,
deren stattliche Ansiedlungen vorteilhaft von denen andrer Nationalitäten, der
Italiener, der Polen, der Luso-Brasilier abstechen; aber man wird zugeben
müssen, daß die Bauern dieser Stämme in der Regel keinen Beruf in sich ver¬
spüren, es in jenen an der Grenze der gemäßigten Zone gelegnen Gebieten
mit etwas anderm als Viehzucht und der Anpflanzung von Korn und einigen
andern Nährpflanzen, sowie des Tabaks als der einzigen „kouranten" Handels¬
pflanze zu versuchen. Der ausgewanderte schwäbische Weingürtner dagegen
wagt sich an alles, wie wir aus einer Reihe von bestimmten Fällen ersehen,
er pflanzt seine aus der alten Heimat mitgenommenen Neben auf vorsichtig
ausgewühlten Boden an, er läßt sich die Pflege der Obstbäume angelegen
sein, er wirft sich auf diese oder jene kleine Industrie, ohne dabei den Anbau
von Mais, Reis, Maudiok und Kartoffeln zu vernachlässigen — kurz, er legt
jene Rührigkeit an den Tag, die bei aller sonstigen Schwerfälligkeit, die seinem
Stamme anhaftet, gerade bei den Schwaben, die ihr „Lcindle" verlassen, sich
meist so vorteilhaft bemerklich macht. Der Schwabe steht ja bei andern
Stämmen vielfach in dem Rufe, ein besondres „Gscheitle" zu sein, besonders
der schwäbische Baier bei den Altbaiern, er weiß immer mehr als andre Leute
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