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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Einige Fragen an die Selektionisten

Und wie dumm ist die Art der Hinrichtung der Ausgestoßenen! Daß sie
die denkbar grausamste ist, darf man Herrn Tille gegenüber nicht sagen,
er würde einen nur auslachen, denn er ist, wie viele andre große Männer
unsrer Zeit, ganz frei vom Humanitätsdusel und wirft das Christentum samt
seiner Moral in die Rumpelkammer, was wir ihm übrigens hoch anrechnen
gegenüber den Herren, die genau so denken und fühlen wie er, sich dabei aber
als fromme Christen und Schützer der Religion geberden. Aber grausam oder
nicht, so bleibt doch die gebräuchliche Hinrichtungsart die denkbar dümmste.
Tille findet es dumm, daß die "Minderwertigen" auf dem Wege der Armen-
Pflege erhalten werden. Aber erhalten sie sich nicht selbst? Bleiben sie nicht
durchschnittlich eben so lange am Leben wie die von der Gemeinde versorgten
Almosenempfänger? Sie leben bekanntlich teils von Verbrechen, teils unmittelbar
oder mittelbar -- als Drehorgelspieler, Hausirer usw. -- vom Betteln, teils
von hunderterlei Arten des Schmarotzertums. Und welche Menge von Polizei-
und Justizbeamten erfordern sie, welche Masse von statistischer, Verwaltungs-.
Justiz- und Aufsichtsarbeit, und wie viel Kosten, die noch zu ihren Unter¬
haltskosten hinzukommen! Wie unästhetisch wirken sie selbst und ihre Be¬
hausungen! Und gefährdet ihr Dasein nicht mitunter die Gesundheit der
"Vollwertigen"? Warum also nicht thun, was die wirtschaftliche und die
Staatsraison fordern? Die Lumpenviertel in Trümmer schießen und abräumen,
ihre Bewohner niederkartätschen, und in Zukunft jeden Menschen, der die Arbeit
verliert und dadurch seine Minderwertigkeit beweist, abschlachten und verscharre"?
Daß das, wenn auch nicht christlich, so doch unendlich humaner wäre als das
jetzt übliche langsame Verkommenlassen bei lebendigem Leibe, das darf man, wie
gesagt, Tille gegenüber nicht erwähnen.

Aus alledem ergeben sich verschiedne Fragen ein die Herren Selektionisten,
die sie vor dem Weiterspeknliren beantworten müssen, wenn sie nicht ins Blaue
hinein faseln wollen. Vor allem: welchen Typus der Menschheit wollt ihr
züchten? Den christlichen gewiß acht, das sagt ja Tille ausdrücklich, und auch
auf den ..Humanitätsdusel" mit seiner Losung: Edel sei der Mensch, hilfreich
und gut! blickt er verächtlich herab. Aber der alte Germauentypus scheint ihm,
seinem Buche nach zu urteilen, nicht übel zu gefallen; dann muß er sich aber
klar machen, daß der mit dem industriellen, einen großen Teil der Menschen
leiblich entkräftenden, den Mut und den Unabhängigkeitssinn vernichtenden
unverträglich ist. Die hellenische Kalokagnthie, wenn die beliebt würde, schließt
außerdem das auf Erwerb gerichtete Banausentum und den Schachergeist aus.
Will man aber beim industriellen Typus stehen bleiben, dann muß man sich
entscheiden, ob man ihn bloß beim eignen Volke oder bei der ganzen Mensch¬
heit fördern will. Ihn bei aller Welt fördern, heißt offenbar die eigne Nation
dem Untergange weihen. Klug haben die Engländer zu der Zeit gehandelt,
wo sie den Bewohnern ihrer eignen Kolonien nicht gestatten wollten, auch nur


Einige Fragen an die Selektionisten

Und wie dumm ist die Art der Hinrichtung der Ausgestoßenen! Daß sie
die denkbar grausamste ist, darf man Herrn Tille gegenüber nicht sagen,
er würde einen nur auslachen, denn er ist, wie viele andre große Männer
unsrer Zeit, ganz frei vom Humanitätsdusel und wirft das Christentum samt
seiner Moral in die Rumpelkammer, was wir ihm übrigens hoch anrechnen
gegenüber den Herren, die genau so denken und fühlen wie er, sich dabei aber
als fromme Christen und Schützer der Religion geberden. Aber grausam oder
nicht, so bleibt doch die gebräuchliche Hinrichtungsart die denkbar dümmste.
Tille findet es dumm, daß die „Minderwertigen" auf dem Wege der Armen-
Pflege erhalten werden. Aber erhalten sie sich nicht selbst? Bleiben sie nicht
durchschnittlich eben so lange am Leben wie die von der Gemeinde versorgten
Almosenempfänger? Sie leben bekanntlich teils von Verbrechen, teils unmittelbar
oder mittelbar — als Drehorgelspieler, Hausirer usw. — vom Betteln, teils
von hunderterlei Arten des Schmarotzertums. Und welche Menge von Polizei-
und Justizbeamten erfordern sie, welche Masse von statistischer, Verwaltungs-.
Justiz- und Aufsichtsarbeit, und wie viel Kosten, die noch zu ihren Unter¬
haltskosten hinzukommen! Wie unästhetisch wirken sie selbst und ihre Be¬
hausungen! Und gefährdet ihr Dasein nicht mitunter die Gesundheit der
„Vollwertigen"? Warum also nicht thun, was die wirtschaftliche und die
Staatsraison fordern? Die Lumpenviertel in Trümmer schießen und abräumen,
ihre Bewohner niederkartätschen, und in Zukunft jeden Menschen, der die Arbeit
verliert und dadurch seine Minderwertigkeit beweist, abschlachten und verscharre«?
Daß das, wenn auch nicht christlich, so doch unendlich humaner wäre als das
jetzt übliche langsame Verkommenlassen bei lebendigem Leibe, das darf man, wie
gesagt, Tille gegenüber nicht erwähnen.

Aus alledem ergeben sich verschiedne Fragen ein die Herren Selektionisten,
die sie vor dem Weiterspeknliren beantworten müssen, wenn sie nicht ins Blaue
hinein faseln wollen. Vor allem: welchen Typus der Menschheit wollt ihr
züchten? Den christlichen gewiß acht, das sagt ja Tille ausdrücklich, und auch
auf den ..Humanitätsdusel" mit seiner Losung: Edel sei der Mensch, hilfreich
und gut! blickt er verächtlich herab. Aber der alte Germauentypus scheint ihm,
seinem Buche nach zu urteilen, nicht übel zu gefallen; dann muß er sich aber
klar machen, daß der mit dem industriellen, einen großen Teil der Menschen
leiblich entkräftenden, den Mut und den Unabhängigkeitssinn vernichtenden
unverträglich ist. Die hellenische Kalokagnthie, wenn die beliebt würde, schließt
außerdem das auf Erwerb gerichtete Banausentum und den Schachergeist aus.
Will man aber beim industriellen Typus stehen bleiben, dann muß man sich
entscheiden, ob man ihn bloß beim eignen Volke oder bei der ganzen Mensch¬
heit fördern will. Ihn bei aller Welt fördern, heißt offenbar die eigne Nation
dem Untergange weihen. Klug haben die Engländer zu der Zeit gehandelt,
wo sie den Bewohnern ihrer eignen Kolonien nicht gestatten wollten, auch nur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/19>, abgerufen am 06.01.2025.