Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Einige Fragen an die Selektionisten leidenden Arbeiter pflanzen sich fort. Bei den alten Germanen, wahrscheinlich ^ Einige Fragen an die Selektionisten leidenden Arbeiter pflanzen sich fort. Bei den alten Germanen, wahrscheinlich ^ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0018" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223602"/> <fw type="header" place="top"> Einige Fragen an die Selektionisten</fw><lb/> <p xml:id="ID_27" prev="#ID_26"> leidenden Arbeiter pflanzen sich fort. Bei den alten Germanen, wahrscheinlich<lb/> auch bei den Kelten der britischen Inseln, hat es gar keine „Minderwertigen"<lb/> gegeben: schwächliche Kinder, wenn es solche überhaupt gegeben hat, sind ent¬<lb/> weder gleich nach der Geburt umgebracht worden oder konnten doch bei der<lb/> damaligen rauhen Lebensweise nicht alt werden. Die Minderwertigkeit stellte<lb/> sich mit dem städtischen Leben ein, und heute verbreitet sich immer weiter und<lb/> rascher, wie die Rekrutenaushebungen beweisen, die in den Großstädten und<lb/> in den Industriebezirken am schlechtesten ausfallen. Nur in Italien verhält<lb/> sich die Sache anders, weil dort die ländliche Bevölkerung in tausendjähriger<lb/> harter Knechtschaft entartet ist, während die Grundherren als Pflastertreter<lb/> in den Städten leben und diese mit ihren wohlgebildeten Gestalten und<lb/> rosigen Gesichtern verschönern. Diese ganze Selektion strebt keinem andern<lb/> Ziele zu, als der billigsten und raschesten Warenproduktion. Nicht sowohl die<lb/> wirklich Untüchtigen werden ausgemerzt — solche unter andern freilich auch —>, als<lb/> vielmehr die, die sich den wechselnden Produktionsweisen nicht rasch und voll¬<lb/> kommen genug anzubequemen und nicht Maschinenteile zu werden vermögen,<lb/> wie man sie gerade braucht. Tille täuscht sich gewaltig, wenn er sich wirklich<lb/> einbilden sollte, daß seine Art von Selektion zur Rasfenverbesserung führe.<lb/> Sie befähigt nur das Volk, bei dem sie wirkt, die andern Nationen auf dem<lb/> Weltmarkte zu unterbieten, und das kann auf die Dauer nur durch Über¬<lb/> anstrengung und Verelendung der Arbeiter, d. h. der Mehrheit der Nation,<lb/> geschehn. Wenn sich die Mitglieder der Gewerkvereine ein menschenwürdiges<lb/> Dasein erkämpft haben, so machen die doch nur ein Fünftel der englischen<lb/> Arbeiterschaft aus, und das manis in (Z^rimam^, wozu auch schon inaäö in<lb/> ^.nisrioa, in Lu88ig. usw. kommt, wird dafür sorgen, daß dieses Fünftel in<lb/> Einkommen und Lebenshaltung allmählich wieder hinabgedrückt wird; das be¬<lb/> rühmte von Braffey gefundne Lohngesetz, wonach der teuerste Arbeiter, wenn<lb/> nicht der billigste, so doch mindestens ebenso billig ist wie der billigste, wird<lb/> vergessen werden, und die verzweifelten Unternehmer werden es mit wohlfeilen<lb/> Kukis versuchen. Nicht die Rasfenverbesserung ist das Ziel, dem die von Tille<lb/> so schön und nützlich gefundne Selektion zustrebt, sondern die immer schleunigere<lb/> Überfüllung des Marktes mit Waren, von denen immer größere Massen un¬<lb/> absetzbar bleiben, und die von den Produzenten selber verwünscht werden.<lb/> Was bildet denn in 99 von 100 Fällen den Inhalt aller öffentlichen Klagen<lb/> und Beschwerden, aller Parteikämpfe unsrer Zeit? Arbeiten und Leistungen,,<lb/> die der Konkurrent verhindern, Waren, die er vernichten möchte. Und trotzdem<lb/> fördert man eine Selektion, die diesen Zustand stetig verschlimmert. Wenn es,<lb/> wie nach dem Kirchenglauben einen persönlichen Geist der Bosheit, so einen<lb/> persönlichen Geist der absoluten Dummheit giebt, dann wirkt der in diesem<lb/> modernen Ausleseprozeß und hat sich in einem seiner Befürworter, vielleicht<lb/> in Herrn Tille, verkörpert.</p><lb/> <p xml:id="ID_28"> ^</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0018]
Einige Fragen an die Selektionisten
leidenden Arbeiter pflanzen sich fort. Bei den alten Germanen, wahrscheinlich
auch bei den Kelten der britischen Inseln, hat es gar keine „Minderwertigen"
gegeben: schwächliche Kinder, wenn es solche überhaupt gegeben hat, sind ent¬
weder gleich nach der Geburt umgebracht worden oder konnten doch bei der
damaligen rauhen Lebensweise nicht alt werden. Die Minderwertigkeit stellte
sich mit dem städtischen Leben ein, und heute verbreitet sich immer weiter und
rascher, wie die Rekrutenaushebungen beweisen, die in den Großstädten und
in den Industriebezirken am schlechtesten ausfallen. Nur in Italien verhält
sich die Sache anders, weil dort die ländliche Bevölkerung in tausendjähriger
harter Knechtschaft entartet ist, während die Grundherren als Pflastertreter
in den Städten leben und diese mit ihren wohlgebildeten Gestalten und
rosigen Gesichtern verschönern. Diese ganze Selektion strebt keinem andern
Ziele zu, als der billigsten und raschesten Warenproduktion. Nicht sowohl die
wirklich Untüchtigen werden ausgemerzt — solche unter andern freilich auch —>, als
vielmehr die, die sich den wechselnden Produktionsweisen nicht rasch und voll¬
kommen genug anzubequemen und nicht Maschinenteile zu werden vermögen,
wie man sie gerade braucht. Tille täuscht sich gewaltig, wenn er sich wirklich
einbilden sollte, daß seine Art von Selektion zur Rasfenverbesserung führe.
Sie befähigt nur das Volk, bei dem sie wirkt, die andern Nationen auf dem
Weltmarkte zu unterbieten, und das kann auf die Dauer nur durch Über¬
anstrengung und Verelendung der Arbeiter, d. h. der Mehrheit der Nation,
geschehn. Wenn sich die Mitglieder der Gewerkvereine ein menschenwürdiges
Dasein erkämpft haben, so machen die doch nur ein Fünftel der englischen
Arbeiterschaft aus, und das manis in (Z^rimam^, wozu auch schon inaäö in
^.nisrioa, in Lu88ig. usw. kommt, wird dafür sorgen, daß dieses Fünftel in
Einkommen und Lebenshaltung allmählich wieder hinabgedrückt wird; das be¬
rühmte von Braffey gefundne Lohngesetz, wonach der teuerste Arbeiter, wenn
nicht der billigste, so doch mindestens ebenso billig ist wie der billigste, wird
vergessen werden, und die verzweifelten Unternehmer werden es mit wohlfeilen
Kukis versuchen. Nicht die Rasfenverbesserung ist das Ziel, dem die von Tille
so schön und nützlich gefundne Selektion zustrebt, sondern die immer schleunigere
Überfüllung des Marktes mit Waren, von denen immer größere Massen un¬
absetzbar bleiben, und die von den Produzenten selber verwünscht werden.
Was bildet denn in 99 von 100 Fällen den Inhalt aller öffentlichen Klagen
und Beschwerden, aller Parteikämpfe unsrer Zeit? Arbeiten und Leistungen,,
die der Konkurrent verhindern, Waren, die er vernichten möchte. Und trotzdem
fördert man eine Selektion, die diesen Zustand stetig verschlimmert. Wenn es,
wie nach dem Kirchenglauben einen persönlichen Geist der Bosheit, so einen
persönlichen Geist der absoluten Dummheit giebt, dann wirkt der in diesem
modernen Ausleseprozeß und hat sich in einem seiner Befürworter, vielleicht
in Herrn Tille, verkörpert.
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