Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Ginige Fragen an die Selektionisten nicht ausgelesene Arbeiter, sondern Weiber und Kinder als willenlose Sklaven Noch einmal frage ich: welche Eigenschaften werden denn durch diese Art Ginige Fragen an die Selektionisten nicht ausgelesene Arbeiter, sondern Weiber und Kinder als willenlose Sklaven Noch einmal frage ich: welche Eigenschaften werden denn durch diese Art <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0016" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223600"/> <fw type="header" place="top"> Ginige Fragen an die Selektionisten</fw><lb/> <p xml:id="ID_23" prev="#ID_22"> nicht ausgelesene Arbeiter, sondern Weiber und Kinder als willenlose Sklaven<lb/> den Unternehmern zur Verfügung standen.</p><lb/> <p xml:id="ID_24" next="#ID_25"> Noch einmal frage ich: welche Eigenschaften werden denn durch diese Art<lb/> Selektion gezüchtet? Zunächst die Eigenschaft des Ausharrens bei ganz ein¬<lb/> seitigen Fertigkeiten. Ist das nun etwas so besonders erhabnes und wün¬<lb/> schenswertes? Ein tüchtiger Bauer, der vielerlei Fertigkeiten erlernt hat und<lb/> dabei über einen reichen Schatz von Erfahrungen im Wirtschaftsleben verfügt<lb/> und darin geübt ist, seine Anordnungen und Arbeiten den wechselnden Ver¬<lb/> hältnissen des Wetters, des Ernteausfalls, des Marktes und seines Viehstandes<lb/> anzupassen und dabei die Fortschritte der Ackerbautechuik zu benutzen, ein<lb/> solcher Bauer ist langsam in seinen Bewegungen und bequem, paßt daher<lb/> kaum in eine unsrer Fabriken. Ist er darum weniger wert als ein Fabrik¬<lb/> arbeiter, der auf Gottes weiter Welt (von der er freilich wenig zu sehen be¬<lb/> kommt) nichts erlernt hat als Wollfäden anknüpfen oder auf ein Ventil auf¬<lb/> passen oder eine Bohrmaschine bedienen? Und wenn irgend ein wirtschaft¬<lb/> licher Umschwung jenen Bauer von seinein Gute heruntertreibt und zum Fabrik¬<lb/> arbeiter degradirt, wird er nun auf einmal „minderwertig," weil er sich dazu<lb/> nicht eignet? Und ist es denn wenigstens körperliche Kraft und Gesundheit,<lb/> was beim Selektionsprozesse oben bleibt? Welche Eigenschaften braucht denn<lb/> einer z. B. zur Arbeit in einer jener Gifthütten, wo den Leuten nach ein<lb/> paar Arbeitsjahren alle Zähne ausfallen? Vor allem die Eigenschaft des<lb/> unbeugsamen Willens, lieber mit dreißig Jahren ein Krüppel und ein siecher<lb/> Mensch zu werden, als durch Arbeitslosigkeit ins Lumpenproletariat zu ver¬<lb/> sinken, und selbstverständlich schließt dieser Entschluß auch das Elend der Nach¬<lb/> kommenschaft ein, denn wie können solche Leute andre als sieche Kinder er¬<lb/> zeugen? Für Hunderttausende von Fabrik- und Grubenarbeitern ist die allererste<lb/> Bedingung, daß sie jeden Widerwillen gegen den Schmutz überwinden und<lb/> sich dazu entschließen können, alle sechs Wochentage, hie und da auch noch<lb/> den Sonntag, im Schmutze zuzubringen. Nach dem Bericht eines preußischen<lb/> Gewerberats giebt es sogar unter den wohlwollenden Unternehmern solche,<lb/> die die Notwendigkeit von Waschvorrichtungen nicht einzusehen vermögen. So<lb/> bewirkt der heutige Selektionsprozeß freilich, daß in den gut zahlenden In¬<lb/> dustrien nnr die tüchtigsten Arbeiter ankommen, die untüchtigen aber aus¬<lb/> gemerzt werden; durch die Industrien mit ungünstigen Lebensbedingungen jedoch,<lb/> denen sich der Arbeit suchende, auch der vollkommen gesunde und tüchtige, an¬<lb/> passen muß, wenn er Arbeit finden will, erzeugt dieser Selektionsprozeß<lb/> Massen „minderwertiger" Menschen, wie sie im reinen Ackerbau- und Krieger¬<lb/> staate gar nicht vorkommen. Wieviel tausend Kinder ganz gesunder Klein¬<lb/> handwerker und vom Lande stammender Arbeiter werden nicht schon durch die<lb/> großstädtische Wohnung alljährlich elend! Die nur zeitweilig beschäftigten<lb/> Leute, die bestündig in Gefahr schweben, ins Lumpenproletariat zu versinken,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0016]
Ginige Fragen an die Selektionisten
nicht ausgelesene Arbeiter, sondern Weiber und Kinder als willenlose Sklaven
den Unternehmern zur Verfügung standen.
Noch einmal frage ich: welche Eigenschaften werden denn durch diese Art
Selektion gezüchtet? Zunächst die Eigenschaft des Ausharrens bei ganz ein¬
seitigen Fertigkeiten. Ist das nun etwas so besonders erhabnes und wün¬
schenswertes? Ein tüchtiger Bauer, der vielerlei Fertigkeiten erlernt hat und
dabei über einen reichen Schatz von Erfahrungen im Wirtschaftsleben verfügt
und darin geübt ist, seine Anordnungen und Arbeiten den wechselnden Ver¬
hältnissen des Wetters, des Ernteausfalls, des Marktes und seines Viehstandes
anzupassen und dabei die Fortschritte der Ackerbautechuik zu benutzen, ein
solcher Bauer ist langsam in seinen Bewegungen und bequem, paßt daher
kaum in eine unsrer Fabriken. Ist er darum weniger wert als ein Fabrik¬
arbeiter, der auf Gottes weiter Welt (von der er freilich wenig zu sehen be¬
kommt) nichts erlernt hat als Wollfäden anknüpfen oder auf ein Ventil auf¬
passen oder eine Bohrmaschine bedienen? Und wenn irgend ein wirtschaft¬
licher Umschwung jenen Bauer von seinein Gute heruntertreibt und zum Fabrik¬
arbeiter degradirt, wird er nun auf einmal „minderwertig," weil er sich dazu
nicht eignet? Und ist es denn wenigstens körperliche Kraft und Gesundheit,
was beim Selektionsprozesse oben bleibt? Welche Eigenschaften braucht denn
einer z. B. zur Arbeit in einer jener Gifthütten, wo den Leuten nach ein
paar Arbeitsjahren alle Zähne ausfallen? Vor allem die Eigenschaft des
unbeugsamen Willens, lieber mit dreißig Jahren ein Krüppel und ein siecher
Mensch zu werden, als durch Arbeitslosigkeit ins Lumpenproletariat zu ver¬
sinken, und selbstverständlich schließt dieser Entschluß auch das Elend der Nach¬
kommenschaft ein, denn wie können solche Leute andre als sieche Kinder er¬
zeugen? Für Hunderttausende von Fabrik- und Grubenarbeitern ist die allererste
Bedingung, daß sie jeden Widerwillen gegen den Schmutz überwinden und
sich dazu entschließen können, alle sechs Wochentage, hie und da auch noch
den Sonntag, im Schmutze zuzubringen. Nach dem Bericht eines preußischen
Gewerberats giebt es sogar unter den wohlwollenden Unternehmern solche,
die die Notwendigkeit von Waschvorrichtungen nicht einzusehen vermögen. So
bewirkt der heutige Selektionsprozeß freilich, daß in den gut zahlenden In¬
dustrien nnr die tüchtigsten Arbeiter ankommen, die untüchtigen aber aus¬
gemerzt werden; durch die Industrien mit ungünstigen Lebensbedingungen jedoch,
denen sich der Arbeit suchende, auch der vollkommen gesunde und tüchtige, an¬
passen muß, wenn er Arbeit finden will, erzeugt dieser Selektionsprozeß
Massen „minderwertiger" Menschen, wie sie im reinen Ackerbau- und Krieger¬
staate gar nicht vorkommen. Wieviel tausend Kinder ganz gesunder Klein¬
handwerker und vom Lande stammender Arbeiter werden nicht schon durch die
großstädtische Wohnung alljährlich elend! Die nur zeitweilig beschäftigten
Leute, die bestündig in Gefahr schweben, ins Lumpenproletariat zu versinken,
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