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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Linige Fragen an die Selektionisten

nichts als faule Ausreden! Marsch in die Fabrik oder ins Arbeitshaus, oder
verhungere auf der Landstraße? Dieses dritte war nämlich damals noch er¬
laubt. Und ist es etwa die Spinnarbeit gewesen, wodurch die Engländer eine
Weltmacht geworden find? O nein! Die Begründer dieser Macht wären
"immermehr geworden, was sie waren, wenn sie geduldige und fleißige Spinner
gewesen wären, Ausreißer sind es gewesen. Jungen, die aus allen Orten
davonliefen, wo sie still sitzen sollten, nieroliiircks iiäv<znwrers, kühne Seeräuber,
die das indische Reich und den englischen Welthandel begründet, die zunächst
durch Negersklavenranb Millionen ins Land gebracht haben. Dann waren
es schlaue Spekulanten und Gründer, die das Vermögen andrer Nationen
in die englischen Geldschrünke gezaubert haben. Die Eigenschaften solcher
Leute sind es, die überall, nicht bloß in England, im Kampfe ums Dasein
den Sieg sichern und zum Besitz von Villen in den Westenden der Residenz¬
städte verhelfen, und es entsteht eben die Frage, ob die Regierungen und
Gesetzgeber dieser Art von Selektion zu Hilfe kommen sollen, und ob es der
Wissenschaft würdig sei. sich für diesen Zweck als Dienerin anzubieten. Was
die Arbeit anlangt, so haben ja die englischen Großhändler. Fabrikanten,
Staatsmänner und Spekulanten solche auch geleistet, natürlich ohne sich zu
überarbeiten, aber nicht die Arbeit im engern Sinne des Wortes giebt für
den Erfolg im Ringen um die Weltherrschaft den Ausschlag, sondern der
kühne Wagemut und der weite Blick, Eigenschaften, die bei gewöhnlicher
Arbeitsplackerei und im engen Kreise gleichmäßiger anhaltender Pflichterfüllung
verloren zu gehen Pflegen. Die Art Arbeit endlich, die Tille ausschließlich
im Auge hat, macht den Engländern so wenig Vergnügen wie andern Leuten.
Sie drücken sich so viel wie möglich davon und lassen sie lieber andre für
sich verrichten: Negersklaven, Iren, Kukis; erst die unterbietenden Iren haben
im Anfang unsers Jahrhunderts einen Teil der englischen Arbeiterbevölkerung
dazu gebracht, sich der modernen Arbeitsweise zu fügen. Man denke auch
daran, wie viel Geld englische Unternehmer mit Bahnbanten. Gas-. Wasser-
und Elektrizitätswcrken verdienen, die sie in andern Ländern mit deren ein¬
heimischen Arbeitern anlegen und betreiben. Und der echte Engländer, der
das Zeug zur Weltbeherrschung hat. zieht auch heute noch das freiere Leben
zur See und in den Kolonien der Fesselung an die Fabrik vor. Auch in
dieser leistet er, energisch, wie er ist, tüchtiges, wenn ihm keine zusagendere
Beschäftigung offen steht, vorausgesetzt, daß ihm -- dabei bleibe ich schon im
Gegensatze zu Tille -- hoher Lohn und die sonstigen Lebensbedingungen ge¬
boten werden, die der Entfaltung seiner natürlichen Energie günstig sind.
Aber dieses Stück eigentlicher Arbeit ist es nicht und vollends nicht allein,
was den englischen Reichtum und die englische Weltmacht geschaffen hat. So¬
fern aber der Textilindustrie wenigstens ein Teil dieses Reichtums verdankt
wird, hat sie diese Leistung der Hauptsache nach zu einer Zeit vollbracht, wo


Linige Fragen an die Selektionisten

nichts als faule Ausreden! Marsch in die Fabrik oder ins Arbeitshaus, oder
verhungere auf der Landstraße? Dieses dritte war nämlich damals noch er¬
laubt. Und ist es etwa die Spinnarbeit gewesen, wodurch die Engländer eine
Weltmacht geworden find? O nein! Die Begründer dieser Macht wären
»immermehr geworden, was sie waren, wenn sie geduldige und fleißige Spinner
gewesen wären, Ausreißer sind es gewesen. Jungen, die aus allen Orten
davonliefen, wo sie still sitzen sollten, nieroliiircks iiäv<znwrers, kühne Seeräuber,
die das indische Reich und den englischen Welthandel begründet, die zunächst
durch Negersklavenranb Millionen ins Land gebracht haben. Dann waren
es schlaue Spekulanten und Gründer, die das Vermögen andrer Nationen
in die englischen Geldschrünke gezaubert haben. Die Eigenschaften solcher
Leute sind es, die überall, nicht bloß in England, im Kampfe ums Dasein
den Sieg sichern und zum Besitz von Villen in den Westenden der Residenz¬
städte verhelfen, und es entsteht eben die Frage, ob die Regierungen und
Gesetzgeber dieser Art von Selektion zu Hilfe kommen sollen, und ob es der
Wissenschaft würdig sei. sich für diesen Zweck als Dienerin anzubieten. Was
die Arbeit anlangt, so haben ja die englischen Großhändler. Fabrikanten,
Staatsmänner und Spekulanten solche auch geleistet, natürlich ohne sich zu
überarbeiten, aber nicht die Arbeit im engern Sinne des Wortes giebt für
den Erfolg im Ringen um die Weltherrschaft den Ausschlag, sondern der
kühne Wagemut und der weite Blick, Eigenschaften, die bei gewöhnlicher
Arbeitsplackerei und im engen Kreise gleichmäßiger anhaltender Pflichterfüllung
verloren zu gehen Pflegen. Die Art Arbeit endlich, die Tille ausschließlich
im Auge hat, macht den Engländern so wenig Vergnügen wie andern Leuten.
Sie drücken sich so viel wie möglich davon und lassen sie lieber andre für
sich verrichten: Negersklaven, Iren, Kukis; erst die unterbietenden Iren haben
im Anfang unsers Jahrhunderts einen Teil der englischen Arbeiterbevölkerung
dazu gebracht, sich der modernen Arbeitsweise zu fügen. Man denke auch
daran, wie viel Geld englische Unternehmer mit Bahnbanten. Gas-. Wasser-
und Elektrizitätswcrken verdienen, die sie in andern Ländern mit deren ein¬
heimischen Arbeitern anlegen und betreiben. Und der echte Engländer, der
das Zeug zur Weltbeherrschung hat. zieht auch heute noch das freiere Leben
zur See und in den Kolonien der Fesselung an die Fabrik vor. Auch in
dieser leistet er, energisch, wie er ist, tüchtiges, wenn ihm keine zusagendere
Beschäftigung offen steht, vorausgesetzt, daß ihm — dabei bleibe ich schon im
Gegensatze zu Tille — hoher Lohn und die sonstigen Lebensbedingungen ge¬
boten werden, die der Entfaltung seiner natürlichen Energie günstig sind.
Aber dieses Stück eigentlicher Arbeit ist es nicht und vollends nicht allein,
was den englischen Reichtum und die englische Weltmacht geschaffen hat. So¬
fern aber der Textilindustrie wenigstens ein Teil dieses Reichtums verdankt
wird, hat sie diese Leistung der Hauptsache nach zu einer Zeit vollbracht, wo


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/15>, abgerufen am 06.01.2025.