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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Einige Fragen an die Selektionisten

Studirzimmer ausgeheckte Selektionstheorie einen die Thatsachen verdrehenden
und die Gewissen der Herrschenden vergiftenden Schwindel.

Wenn mau reich ist und angesehene Eltern hat, kann man sehr "minder¬
wertig" sein, ohne "ausgeschieden" zu werden. Giebt es etwa in den höhern
Ständen keine Dummköpfe und keine Faulpelze, giebt es keine Epileptischen,
keine Gelähmten, keine zu aller Arbeit unfähige Schwindsüchtigen, und wenn
es solche giebt, werden sie sämtlich dazu verurteilt, elend umzukommen?
Und giebt es dort keine moralisch "Minderwertigen"? In derselben Nummer
der Frankfurter Zeitung, die Tillcs Artikel enthält, wird über die Sitzung
des Kongresses für Kriminalanthropologie vom 6. September berichtet. An
diesem Tage hat Professor Lacasagne aus Lyon über die feinen Ladendiebinnen
gesprochen und unter anderm angeführt, daß ein Londoner Magazin unter
seinen Kunden achthundert Kleptomaninnen "aus den besten Familien" zähle.
stiehlt ein Armer und wird erwischt, so heißt das Diebstahl; er wandert ins
Gefängnis und dann in neun von zehn Fällen von einem Gefängnis zum
andern, bis er im Zuchthause oder im Arbeitshause oder im Straßengraben
stirbt. stiehlt eine Dame, so nennt mans Kleptomanie; die Dame bleibt in
ihrer Familie und behauptet ihre gesellschaftliche Stellung, nur daß sie sich
eine beständige Überwachung gefallen lassen muß. Aber ist sie etwa nicht
"minderwertig"? Man mag es Krankheit nennen oder abnorme Schwäche eines
Willens, der nicht einmal ganz kindischen Gelüsten zu widerstehen vermag,
"Minderwertigkeit" ist es doch einmal; warum fordern die Herren Selektionisten
nicht, daß solche Personen ausgestoßen und zur Hinrichtung durch den Prozeß
der natürlichen Auslese verurteilt werden?

Und dann: welche Eigenschaften sind es denn eigentlich, die nach der
Meinung der Selektionisten und Sozialaristokraten auf diesem Wege gezüchtet
werden? Es ist immer bloß von der angestrengten Arbeit in Fabriken die Rede;
ist die denn das einzige, was von einem Volke zu leisten ist? Es kommt doch
vor, daß einer zu mancherlei fähig und nütze ist, nur gerade nicht zum An¬
knüpfe" von Vaumwollcnfäden in einer Spinnfabrik; muß er darum, wenn
ihn sein Schicksal in eine Spinnfabrik führt, auf die Straße, sobald seine
Unfähigkeit gerade sür diese Verrichtung erwiesen ist? Paulus hat sich mit
Weberei ernährt, aber wenn damals die Handweberei durch die Maschinen¬
weberei ersetzt worden wäre, so hätte es ihm leicht ergehen können, wie es
den meisten Handwebern in der Übergangszeit ergangen ist; und da die Unter¬
stützungen, die er von den Gemeinden hie und dn erhielt, auch manchmal
ausblieben, wie mau aus einigen Stellen seiner Briefe ersieht, so wäre es doch
ganz in der Ordnung gewesen, daß er als arbeitsloser Strolch umgekommen
wäre. Etwa nicht? Und wenn er eingewendet hätte: ich habe eine Apostel¬
mission zu erfüllen und Briefe zu schreiben, die unzähligen Geschlechtern Trost
und Erleuchtung bringen sollen, hätte man ihm da nicht mit Recht gesagt:


Einige Fragen an die Selektionisten

Studirzimmer ausgeheckte Selektionstheorie einen die Thatsachen verdrehenden
und die Gewissen der Herrschenden vergiftenden Schwindel.

Wenn mau reich ist und angesehene Eltern hat, kann man sehr „minder¬
wertig" sein, ohne „ausgeschieden" zu werden. Giebt es etwa in den höhern
Ständen keine Dummköpfe und keine Faulpelze, giebt es keine Epileptischen,
keine Gelähmten, keine zu aller Arbeit unfähige Schwindsüchtigen, und wenn
es solche giebt, werden sie sämtlich dazu verurteilt, elend umzukommen?
Und giebt es dort keine moralisch „Minderwertigen"? In derselben Nummer
der Frankfurter Zeitung, die Tillcs Artikel enthält, wird über die Sitzung
des Kongresses für Kriminalanthropologie vom 6. September berichtet. An
diesem Tage hat Professor Lacasagne aus Lyon über die feinen Ladendiebinnen
gesprochen und unter anderm angeführt, daß ein Londoner Magazin unter
seinen Kunden achthundert Kleptomaninnen „aus den besten Familien" zähle.
stiehlt ein Armer und wird erwischt, so heißt das Diebstahl; er wandert ins
Gefängnis und dann in neun von zehn Fällen von einem Gefängnis zum
andern, bis er im Zuchthause oder im Arbeitshause oder im Straßengraben
stirbt. stiehlt eine Dame, so nennt mans Kleptomanie; die Dame bleibt in
ihrer Familie und behauptet ihre gesellschaftliche Stellung, nur daß sie sich
eine beständige Überwachung gefallen lassen muß. Aber ist sie etwa nicht
„minderwertig"? Man mag es Krankheit nennen oder abnorme Schwäche eines
Willens, der nicht einmal ganz kindischen Gelüsten zu widerstehen vermag,
„Minderwertigkeit" ist es doch einmal; warum fordern die Herren Selektionisten
nicht, daß solche Personen ausgestoßen und zur Hinrichtung durch den Prozeß
der natürlichen Auslese verurteilt werden?

Und dann: welche Eigenschaften sind es denn eigentlich, die nach der
Meinung der Selektionisten und Sozialaristokraten auf diesem Wege gezüchtet
werden? Es ist immer bloß von der angestrengten Arbeit in Fabriken die Rede;
ist die denn das einzige, was von einem Volke zu leisten ist? Es kommt doch
vor, daß einer zu mancherlei fähig und nütze ist, nur gerade nicht zum An¬
knüpfe» von Vaumwollcnfäden in einer Spinnfabrik; muß er darum, wenn
ihn sein Schicksal in eine Spinnfabrik führt, auf die Straße, sobald seine
Unfähigkeit gerade sür diese Verrichtung erwiesen ist? Paulus hat sich mit
Weberei ernährt, aber wenn damals die Handweberei durch die Maschinen¬
weberei ersetzt worden wäre, so hätte es ihm leicht ergehen können, wie es
den meisten Handwebern in der Übergangszeit ergangen ist; und da die Unter¬
stützungen, die er von den Gemeinden hie und dn erhielt, auch manchmal
ausblieben, wie mau aus einigen Stellen seiner Briefe ersieht, so wäre es doch
ganz in der Ordnung gewesen, daß er als arbeitsloser Strolch umgekommen
wäre. Etwa nicht? Und wenn er eingewendet hätte: ich habe eine Apostel¬
mission zu erfüllen und Briefe zu schreiben, die unzähligen Geschlechtern Trost
und Erleuchtung bringen sollen, hätte man ihm da nicht mit Recht gesagt:


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[0014] Einige Fragen an die Selektionisten Studirzimmer ausgeheckte Selektionstheorie einen die Thatsachen verdrehenden und die Gewissen der Herrschenden vergiftenden Schwindel. Wenn mau reich ist und angesehene Eltern hat, kann man sehr „minder¬ wertig" sein, ohne „ausgeschieden" zu werden. Giebt es etwa in den höhern Ständen keine Dummköpfe und keine Faulpelze, giebt es keine Epileptischen, keine Gelähmten, keine zu aller Arbeit unfähige Schwindsüchtigen, und wenn es solche giebt, werden sie sämtlich dazu verurteilt, elend umzukommen? Und giebt es dort keine moralisch „Minderwertigen"? In derselben Nummer der Frankfurter Zeitung, die Tillcs Artikel enthält, wird über die Sitzung des Kongresses für Kriminalanthropologie vom 6. September berichtet. An diesem Tage hat Professor Lacasagne aus Lyon über die feinen Ladendiebinnen gesprochen und unter anderm angeführt, daß ein Londoner Magazin unter seinen Kunden achthundert Kleptomaninnen „aus den besten Familien" zähle. stiehlt ein Armer und wird erwischt, so heißt das Diebstahl; er wandert ins Gefängnis und dann in neun von zehn Fällen von einem Gefängnis zum andern, bis er im Zuchthause oder im Arbeitshause oder im Straßengraben stirbt. stiehlt eine Dame, so nennt mans Kleptomanie; die Dame bleibt in ihrer Familie und behauptet ihre gesellschaftliche Stellung, nur daß sie sich eine beständige Überwachung gefallen lassen muß. Aber ist sie etwa nicht „minderwertig"? Man mag es Krankheit nennen oder abnorme Schwäche eines Willens, der nicht einmal ganz kindischen Gelüsten zu widerstehen vermag, „Minderwertigkeit" ist es doch einmal; warum fordern die Herren Selektionisten nicht, daß solche Personen ausgestoßen und zur Hinrichtung durch den Prozeß der natürlichen Auslese verurteilt werden? Und dann: welche Eigenschaften sind es denn eigentlich, die nach der Meinung der Selektionisten und Sozialaristokraten auf diesem Wege gezüchtet werden? Es ist immer bloß von der angestrengten Arbeit in Fabriken die Rede; ist die denn das einzige, was von einem Volke zu leisten ist? Es kommt doch vor, daß einer zu mancherlei fähig und nütze ist, nur gerade nicht zum An¬ knüpfe» von Vaumwollcnfäden in einer Spinnfabrik; muß er darum, wenn ihn sein Schicksal in eine Spinnfabrik führt, auf die Straße, sobald seine Unfähigkeit gerade sür diese Verrichtung erwiesen ist? Paulus hat sich mit Weberei ernährt, aber wenn damals die Handweberei durch die Maschinen¬ weberei ersetzt worden wäre, so hätte es ihm leicht ergehen können, wie es den meisten Handwebern in der Übergangszeit ergangen ist; und da die Unter¬ stützungen, die er von den Gemeinden hie und dn erhielt, auch manchmal ausblieben, wie mau aus einigen Stellen seiner Briefe ersieht, so wäre es doch ganz in der Ordnung gewesen, daß er als arbeitsloser Strolch umgekommen wäre. Etwa nicht? Und wenn er eingewendet hätte: ich habe eine Apostel¬ mission zu erfüllen und Briefe zu schreiben, die unzähligen Geschlechtern Trost und Erleuchtung bringen sollen, hätte man ihm da nicht mit Recht gesagt:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/14>, abgerufen am 06.01.2025.