Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Einige Fragen an die Selektionisten zwei gemißhandelte und ausgehungerte Pferde, Hengst und Stute, noch im Nicht die Arbeiterschaft der Spinnereien also, die größtenteils aus Kindern Einige Fragen an die Selektionisten zwei gemißhandelte und ausgehungerte Pferde, Hengst und Stute, noch im Nicht die Arbeiterschaft der Spinnereien also, die größtenteils aus Kindern <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0013" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223597"/> <fw type="header" place="top"> Einige Fragen an die Selektionisten</fw><lb/> <p xml:id="ID_17" prev="#ID_16"> zwei gemißhandelte und ausgehungerte Pferde, Hengst und Stute, noch im<lb/> zeugungsfähigen Alter in einen guten Stall und in gute Behandlung kommen,<lb/> so werden sie auch wieder imstande sein, gute Nachkommen zu erzeugen.</p><lb/> <p xml:id="ID_18" next="#ID_19"> Nicht die Arbeiterschaft der Spinnereien also, die größtenteils aus Kindern<lb/> bestand, wohl aber die gesamte erwachsene englische Lohnarbeitcrschaft jener<lb/> Zeit kaun in der That als Auswurf bezeichnet werden. Aber wo stammte<lb/> dieser Auswurf her? War er vom Himmel gefallen? Oder ist es jedem Volke<lb/> vorherbestimmt, daß fünfzig Prozent seiner Angehörigen Auswurf sein müssen?<lb/> Dieser englische Auswurf war das Produkt der gewaltsamen und ungerechten<lb/> Vertreibung des englischen Bauern- und Kleinpächterstandes von der eignen<lb/> Scholle und einer ebenso unvernünftigen als grausamen Armengesetzgebung.<lb/> Und so ist das Lumpenproletariat überall in der Welt, wo es vorkommt,<lb/> nur zum Teil Naturprodukt, zum größern Teil Kunstprodukt. Was aber<lb/> die Kunst, in diesem Falle die Staatskunst, verdorben hat, das muß sie<lb/> auch wieder gut macheu können; kann sie Lumpen erzeugen, so kann sie<lb/> auch der Entstehung von Lumpen vorbeugen. In der sizilianischen Provinz<lb/> Caltcmisetta waren, wie man in Ur. 50 der Sozialen Praxis liest, in den vier<lb/> Jahren von 1881 bis 1884 unter 3672 stellungspflichtigen Arbeitern nur<lb/> 203 diensttaugliche, also Prozent. Die Ursache ist die Verwendung der<lb/> Knaben in den Schwefelgrubeu. Neuere statistische Angaben scheinen nicht vor¬<lb/> zuliegen, wahrscheinlich sehnend sich die Statistik. Gehen nun diese Knaben in die<lb/> Schwefelgrubeu, weil sie einem von Uranfang „minderwertigen" Menschenschlag<lb/> angehören und sonst zu nichts taugen? Oder verkrüppelt der dortige Menschen¬<lb/> schlag, weil eine unvernünftige Agrargesetzgebung die Landarbeiter und Klein¬<lb/> pächter zwingt, ihre Kinder, die sie selbst nicht ernähren können, und für die<lb/> es keine andre Beschäftigung giebt, in die Schwefelgrubeu zu verkaufen? Sollte<lb/> Herr Tille einen acht bis zehn Jahre alten „vollwertigen" Sohn haben, so kann<lb/> er uus beweisen, daß es ihm mit seiner Theorie Ernst ist. Er verkaufe diesen<lb/> Sohn nach Caltcmisetta. Dort wird der Knabe, vollkommen nackt, täglich<lb/> zwölf bis vierzehn Stunden lang halbe Zentner schwere Schwefelblöcke auf<lb/> einer steilen Leiter den tiefen Schlot herausschleppen. Bei jeder Ruhepause,<lb/> die er macht, wird er vom Aufseher einen Hieb oder einen Fußtritt bekommen.<lb/> Als einzige Nahrung wird er schlechtes Brot in ungenügender Menge, als<lb/> einziges Getränk Sumpfwasser, als einziges Lager den steinigen Erdboden<lb/> haben. Nach zehn oder zwölf Jahren möge sich dann Herr Tille seineu Sohn<lb/> einmal beschauen, und wenn er ihn dann „minderwertig" findet und sagt: der<lb/> Kerl taugt nicht fürs Leben, er genügt nicht den Anforderungen unsrer Zeit,<lb/> er ist durch den Ausscheidungsprozeß der Natur dem Untergange verfallen<lb/> "ut mag irgendwo in Ostlondon oder Südsizilien in der Gosse umkommen,<lb/> dann werde ich vor dem starkgeistigen Philosophen den Hut ziehen; wenn er<lb/> aber diese oder eine ähnliche Probe nicht ablegt, dann neune ich seine im</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0013]
Einige Fragen an die Selektionisten
zwei gemißhandelte und ausgehungerte Pferde, Hengst und Stute, noch im
zeugungsfähigen Alter in einen guten Stall und in gute Behandlung kommen,
so werden sie auch wieder imstande sein, gute Nachkommen zu erzeugen.
Nicht die Arbeiterschaft der Spinnereien also, die größtenteils aus Kindern
bestand, wohl aber die gesamte erwachsene englische Lohnarbeitcrschaft jener
Zeit kaun in der That als Auswurf bezeichnet werden. Aber wo stammte
dieser Auswurf her? War er vom Himmel gefallen? Oder ist es jedem Volke
vorherbestimmt, daß fünfzig Prozent seiner Angehörigen Auswurf sein müssen?
Dieser englische Auswurf war das Produkt der gewaltsamen und ungerechten
Vertreibung des englischen Bauern- und Kleinpächterstandes von der eignen
Scholle und einer ebenso unvernünftigen als grausamen Armengesetzgebung.
Und so ist das Lumpenproletariat überall in der Welt, wo es vorkommt,
nur zum Teil Naturprodukt, zum größern Teil Kunstprodukt. Was aber
die Kunst, in diesem Falle die Staatskunst, verdorben hat, das muß sie
auch wieder gut macheu können; kann sie Lumpen erzeugen, so kann sie
auch der Entstehung von Lumpen vorbeugen. In der sizilianischen Provinz
Caltcmisetta waren, wie man in Ur. 50 der Sozialen Praxis liest, in den vier
Jahren von 1881 bis 1884 unter 3672 stellungspflichtigen Arbeitern nur
203 diensttaugliche, also Prozent. Die Ursache ist die Verwendung der
Knaben in den Schwefelgrubeu. Neuere statistische Angaben scheinen nicht vor¬
zuliegen, wahrscheinlich sehnend sich die Statistik. Gehen nun diese Knaben in die
Schwefelgrubeu, weil sie einem von Uranfang „minderwertigen" Menschenschlag
angehören und sonst zu nichts taugen? Oder verkrüppelt der dortige Menschen¬
schlag, weil eine unvernünftige Agrargesetzgebung die Landarbeiter und Klein¬
pächter zwingt, ihre Kinder, die sie selbst nicht ernähren können, und für die
es keine andre Beschäftigung giebt, in die Schwefelgrubeu zu verkaufen? Sollte
Herr Tille einen acht bis zehn Jahre alten „vollwertigen" Sohn haben, so kann
er uus beweisen, daß es ihm mit seiner Theorie Ernst ist. Er verkaufe diesen
Sohn nach Caltcmisetta. Dort wird der Knabe, vollkommen nackt, täglich
zwölf bis vierzehn Stunden lang halbe Zentner schwere Schwefelblöcke auf
einer steilen Leiter den tiefen Schlot herausschleppen. Bei jeder Ruhepause,
die er macht, wird er vom Aufseher einen Hieb oder einen Fußtritt bekommen.
Als einzige Nahrung wird er schlechtes Brot in ungenügender Menge, als
einziges Getränk Sumpfwasser, als einziges Lager den steinigen Erdboden
haben. Nach zehn oder zwölf Jahren möge sich dann Herr Tille seineu Sohn
einmal beschauen, und wenn er ihn dann „minderwertig" findet und sagt: der
Kerl taugt nicht fürs Leben, er genügt nicht den Anforderungen unsrer Zeit,
er ist durch den Ausscheidungsprozeß der Natur dem Untergange verfallen
"ut mag irgendwo in Ostlondon oder Südsizilien in der Gosse umkommen,
dann werde ich vor dem starkgeistigen Philosophen den Hut ziehen; wenn er
aber diese oder eine ähnliche Probe nicht ablegt, dann neune ich seine im
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