Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Einige Fragen an die Selektionisten größten Arbeiterelends hat sich England zum Kattunlieferanten der Welt Einige Fragen an die Selektionisten größten Arbeiterelends hat sich England zum Kattunlieferanten der Welt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0012" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223596"/> <fw type="header" place="top"> Einige Fragen an die Selektionisten</fw><lb/> <p xml:id="ID_16" prev="#ID_15" next="#ID_17"> größten Arbeiterelends hat sich England zum Kattunlieferanten der Welt<lb/> emporgeschwungen; gegenwärtig, wo der Arbeitslohn in der Textilindustrie<lb/> hoch und die Arbeitszeit kurz ist, ringt sie mir noch um die Behauptung ihres<lb/> Platzes auf dem Weltmarkte. Was sich mit fortschreitender Fabrikgesetzgebung<lb/> zu größerer Blüte entwickelt hat, das sind der Maschinenbau und die übrigen<lb/> Metallindustrien, samt Eisenbahn- und Panzerschiffbau und Kanonengießerei,<lb/> Gewerbe, die des Arbeiterschutzes gar nicht bedürfen, weil sie schwächliche<lb/> Arbeiter nicht brauchen können. Eben dem Umstände, daß diese Industrien<lb/> mit ihrer körperlichen und geistig kräftigen Arbeiterschaft mehr und mehr in<lb/> den Vordergrund traten und der Arbeiterbewegung aktionsfähige Führer lieferten,<lb/> haben auch die Textilarbeiter ihre Erlösung verdankt. Sodann hat ja die<lb/> englische Negierung gar nicht daran gedacht, einen Maximalarbeitstag für er¬<lb/> wachsene männliche Arbeiter vorzuschreiben; Frauen und Kinder waren ursprüng¬<lb/> lich allein und sind noch hente hauptsächlich die Gegenstände der englischen<lb/> Arbeiterschutzgesetzgebung- Es ist nur in einem gewissen Sinne wahr, daß um<lb/> 1820 die englische Jndustriearbeiterschaft aus dem Auswurf des Volks bestanden<lb/> habe. Sie bestand in der hier vorzugsweise in Betracht kommenden Textil¬<lb/> industrie aus Kindern. Die Männer wurden aus der Fabrik hinausgeworfen,<lb/> und ihre und die Armenhauskinder wurden in die Fabrik gesperrt. Der Anblick<lb/> von tausend bleichen und verkrüppelten Kindern, die der ältere Robert Peel<lb/> einmal in seiner eignen Fabrik zu sehen bekam, war es, was ihm die Not¬<lb/> wendigkeit eines Fabrikgesetzes im Interesse der Erhaltung der englischen Volks¬<lb/> kraft klar machte. Daß die heutigen Spinner nur zum kleinern Teil Nachkommen<lb/> der damaligen sind, ist schon möglich; finden doch die Lohnarbeiter hin und her,<lb/> von einem Ort und von einem Gewerbe zum andern. Aber die Rekrutirung<lb/> aus Handwerk und Ackerbau würde zur Verbesserung des Arbeitermaterials<lb/> wenig beigetragen haben. Waren doch jene elenden Spinner sämtlich von Haus<lb/> aus teils Handwerkslehrlinge, teils durch die Maschine zu Grunde gerichtete<lb/> Handwerker und Nachkommen von solchen; landwirtschaftliche Arbeiter aber<lb/> sind langsam und schwerfällig und für die Spinnerei, die feine, flinke Finger<lb/> erfordert, wenig geeignet; überdies waren sie gleich der gesamten englischen<lb/> Lohnarbeiterschaft damals entartet, wie sie es zum Teil heute noch sind. Aber<lb/> daß die heutigen kräftigen und tüchtigen Spinner nicht die Nachkommen ver¬<lb/> kümmerter Großväter und Urgroßväter sein könnten, das gebe ich nicht zu.<lb/> Ich bin kein Darwinianer; soweit jedoch erkenne ich die Vererbung erworbner<lb/> Eigenschaften an, wie sie durch die Tierzucht schon Jahrtausende vor Darwin<lb/> erwiesen worden ist. Wenn jemand eine Abnormität, z. B. einen Buckel, einen<lb/> Kropf „erwirbt" oder seine Nase einbüßt, so vererbt er diese Eigentümlichkeiten<lb/> freilich nicht. Aber daß die Füllen von wohlgenährten und gutgepflegten<lb/> Pferdeeltern anders ausfallen als die von ausgehungerten und vor Lastfuhren<lb/> zu Schanden geprügelten, das bezweifelt doch wohl kein Mensch. Und wenn</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0012]
Einige Fragen an die Selektionisten
größten Arbeiterelends hat sich England zum Kattunlieferanten der Welt
emporgeschwungen; gegenwärtig, wo der Arbeitslohn in der Textilindustrie
hoch und die Arbeitszeit kurz ist, ringt sie mir noch um die Behauptung ihres
Platzes auf dem Weltmarkte. Was sich mit fortschreitender Fabrikgesetzgebung
zu größerer Blüte entwickelt hat, das sind der Maschinenbau und die übrigen
Metallindustrien, samt Eisenbahn- und Panzerschiffbau und Kanonengießerei,
Gewerbe, die des Arbeiterschutzes gar nicht bedürfen, weil sie schwächliche
Arbeiter nicht brauchen können. Eben dem Umstände, daß diese Industrien
mit ihrer körperlichen und geistig kräftigen Arbeiterschaft mehr und mehr in
den Vordergrund traten und der Arbeiterbewegung aktionsfähige Führer lieferten,
haben auch die Textilarbeiter ihre Erlösung verdankt. Sodann hat ja die
englische Negierung gar nicht daran gedacht, einen Maximalarbeitstag für er¬
wachsene männliche Arbeiter vorzuschreiben; Frauen und Kinder waren ursprüng¬
lich allein und sind noch hente hauptsächlich die Gegenstände der englischen
Arbeiterschutzgesetzgebung- Es ist nur in einem gewissen Sinne wahr, daß um
1820 die englische Jndustriearbeiterschaft aus dem Auswurf des Volks bestanden
habe. Sie bestand in der hier vorzugsweise in Betracht kommenden Textil¬
industrie aus Kindern. Die Männer wurden aus der Fabrik hinausgeworfen,
und ihre und die Armenhauskinder wurden in die Fabrik gesperrt. Der Anblick
von tausend bleichen und verkrüppelten Kindern, die der ältere Robert Peel
einmal in seiner eignen Fabrik zu sehen bekam, war es, was ihm die Not¬
wendigkeit eines Fabrikgesetzes im Interesse der Erhaltung der englischen Volks¬
kraft klar machte. Daß die heutigen Spinner nur zum kleinern Teil Nachkommen
der damaligen sind, ist schon möglich; finden doch die Lohnarbeiter hin und her,
von einem Ort und von einem Gewerbe zum andern. Aber die Rekrutirung
aus Handwerk und Ackerbau würde zur Verbesserung des Arbeitermaterials
wenig beigetragen haben. Waren doch jene elenden Spinner sämtlich von Haus
aus teils Handwerkslehrlinge, teils durch die Maschine zu Grunde gerichtete
Handwerker und Nachkommen von solchen; landwirtschaftliche Arbeiter aber
sind langsam und schwerfällig und für die Spinnerei, die feine, flinke Finger
erfordert, wenig geeignet; überdies waren sie gleich der gesamten englischen
Lohnarbeiterschaft damals entartet, wie sie es zum Teil heute noch sind. Aber
daß die heutigen kräftigen und tüchtigen Spinner nicht die Nachkommen ver¬
kümmerter Großväter und Urgroßväter sein könnten, das gebe ich nicht zu.
Ich bin kein Darwinianer; soweit jedoch erkenne ich die Vererbung erworbner
Eigenschaften an, wie sie durch die Tierzucht schon Jahrtausende vor Darwin
erwiesen worden ist. Wenn jemand eine Abnormität, z. B. einen Buckel, einen
Kropf „erwirbt" oder seine Nase einbüßt, so vererbt er diese Eigentümlichkeiten
freilich nicht. Aber daß die Füllen von wohlgenährten und gutgepflegten
Pferdeeltern anders ausfallen als die von ausgehungerten und vor Lastfuhren
zu Schanden geprügelten, das bezweifelt doch wohl kein Mensch. Und wenn
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