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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Einige Fragen an die Selektionisteu

Maßregel wie nur möglich, und eine volksstandswirtschaftliche ^so!^ Maßnahine
ersten Ranges. Fast genau dasselbe gilt von der Einführung des Mindest¬
lohns." Denn Arbeiter, heißt es weiter, deren Leistungen diesen "Mindestlohn"
nicht wert sind, muß der Unternehmer entlassen; es bleiben also überall nur
die tüchtigsten in Arbeit. In England haben die Gewerkvereine diesen Zustand
herbeigeführt; indem die Tüchtigsten allen zu helfen gedachten, haben sie nur
sich selbst geholfen auf Kohle" der Untüchtigen. So wirken denn beide Ma߬
regeln den Absichten entgegen, die die Sozialisten bei ihrer Empfehlung hege";
sozialistisch würden sie erst wirken, wenn damit die Versicherung gegen Arbeits¬
losigkeit verbunden würde, d. h. wenn der Staat den ausgeschicdnen Untaug¬
lichen eine lebenslängliche Pension zahlte und sie so besser stellte als die
Tauglichen. "Das ist ja der Fluch des Sozialismus, daß seine Bemühungen
im Dienste eines unklar vorgestellten Ideals von Menschenglück immer mir
den Lumpen und Krüppeln zu gute kommen können, daß er unbewußt das
Untaugliche fördert auf Kosten des Tauglichen und das Kranke auf Kosten
des Gesunden. Das ist aber bei der herrschenden Gefühlsverweichlichung in
sozialen Dingen auch der Kern des Zaubers, den er auf schwärmerische Ge¬
müter, namentlich auf Frauen ausübt, daß er gleich dem Urchristentum alle
Mühseligen und Beladue". d. h. in moderner Sprache die physiologisch Un¬
tauglichen und seelisch Entarteten, die Faulenzer und Verbrecher, glorifizirt,
weil sie ja nichts dafür können, daß sie so sind und sich nicht selbst so gemacht
haben. Dann dürfte man aber auch den Krebs nicht ausschneiden und den
Dornbusch nicht abhauen, um eine" Fruchtbaum zu setze". Und vor allem
hat sich die Natur ja auch nicht selbst wissentlich so gemacht, wie sie ist, und
kann somit nichts dafür, daß es Gesetz in ihr ist, daß alles Krankhafte und
Entartete aussterbe, ans daß alles Gesunde und Starke lebe, wachse und
gedeihe."

Zweifellos ist, daß der "Höchstarbeitstag" und der "Mindestlvhn" in
Tilles Sinne selcktionistisch wirken, und daß die englischen Gewerkvereine den
Erfolg gehabt haben, den er ihnen zuschreibt. Weniger zweifellos sind die
übrigen geschichtlichen Hergange, mit denen er seine Theorie belegt. Was er
von der deutschen Reichskommission für Arbeiterstatistik und von den Bückern
sagt, müßte man geradezu gemein nennen, wenn er nicht, wie ich annehme,
ausschließlich in aristokratischer Umgebung lebte und mit der jenseits davon
liegenden Wirklichkeit völlig unbekannt wäre. Hätte er einen Begriff vom
Arbeiterleben, so würde er wissen, daß ein Mensch nach täglich sechzehnstündiger
Arbeit beim Backofen in der That zu erschöpft ist, noch irgend etwas zu unter¬
nehmen, sei es auch nur die Reinigung seines eignen Körpers, und daß das
Reinhalten des Bettes nicht Sache des Gesellen ist, sondern Sache des Meisters.

Der Hergang in der englischen Textilindustrie sodann ist mehrfach falsch
dargestellt. Nicht nnter der Herrschaft der Fabrikgesetze, sondern zur Zeit des


Einige Fragen an die Selektionisteu

Maßregel wie nur möglich, und eine volksstandswirtschaftliche ^so!^ Maßnahine
ersten Ranges. Fast genau dasselbe gilt von der Einführung des Mindest¬
lohns." Denn Arbeiter, heißt es weiter, deren Leistungen diesen „Mindestlohn"
nicht wert sind, muß der Unternehmer entlassen; es bleiben also überall nur
die tüchtigsten in Arbeit. In England haben die Gewerkvereine diesen Zustand
herbeigeführt; indem die Tüchtigsten allen zu helfen gedachten, haben sie nur
sich selbst geholfen auf Kohle» der Untüchtigen. So wirken denn beide Ma߬
regeln den Absichten entgegen, die die Sozialisten bei ihrer Empfehlung hege»;
sozialistisch würden sie erst wirken, wenn damit die Versicherung gegen Arbeits¬
losigkeit verbunden würde, d. h. wenn der Staat den ausgeschicdnen Untaug¬
lichen eine lebenslängliche Pension zahlte und sie so besser stellte als die
Tauglichen. „Das ist ja der Fluch des Sozialismus, daß seine Bemühungen
im Dienste eines unklar vorgestellten Ideals von Menschenglück immer mir
den Lumpen und Krüppeln zu gute kommen können, daß er unbewußt das
Untaugliche fördert auf Kosten des Tauglichen und das Kranke auf Kosten
des Gesunden. Das ist aber bei der herrschenden Gefühlsverweichlichung in
sozialen Dingen auch der Kern des Zaubers, den er auf schwärmerische Ge¬
müter, namentlich auf Frauen ausübt, daß er gleich dem Urchristentum alle
Mühseligen und Beladue». d. h. in moderner Sprache die physiologisch Un¬
tauglichen und seelisch Entarteten, die Faulenzer und Verbrecher, glorifizirt,
weil sie ja nichts dafür können, daß sie so sind und sich nicht selbst so gemacht
haben. Dann dürfte man aber auch den Krebs nicht ausschneiden und den
Dornbusch nicht abhauen, um eine» Fruchtbaum zu setze». Und vor allem
hat sich die Natur ja auch nicht selbst wissentlich so gemacht, wie sie ist, und
kann somit nichts dafür, daß es Gesetz in ihr ist, daß alles Krankhafte und
Entartete aussterbe, ans daß alles Gesunde und Starke lebe, wachse und
gedeihe."

Zweifellos ist, daß der „Höchstarbeitstag" und der „Mindestlvhn" in
Tilles Sinne selcktionistisch wirken, und daß die englischen Gewerkvereine den
Erfolg gehabt haben, den er ihnen zuschreibt. Weniger zweifellos sind die
übrigen geschichtlichen Hergange, mit denen er seine Theorie belegt. Was er
von der deutschen Reichskommission für Arbeiterstatistik und von den Bückern
sagt, müßte man geradezu gemein nennen, wenn er nicht, wie ich annehme,
ausschließlich in aristokratischer Umgebung lebte und mit der jenseits davon
liegenden Wirklichkeit völlig unbekannt wäre. Hätte er einen Begriff vom
Arbeiterleben, so würde er wissen, daß ein Mensch nach täglich sechzehnstündiger
Arbeit beim Backofen in der That zu erschöpft ist, noch irgend etwas zu unter¬
nehmen, sei es auch nur die Reinigung seines eignen Körpers, und daß das
Reinhalten des Bettes nicht Sache des Gesellen ist, sondern Sache des Meisters.

Der Hergang in der englischen Textilindustrie sodann ist mehrfach falsch
dargestellt. Nicht nnter der Herrschaft der Fabrikgesetze, sondern zur Zeit des


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[0011] Einige Fragen an die Selektionisteu Maßregel wie nur möglich, und eine volksstandswirtschaftliche ^so!^ Maßnahine ersten Ranges. Fast genau dasselbe gilt von der Einführung des Mindest¬ lohns." Denn Arbeiter, heißt es weiter, deren Leistungen diesen „Mindestlohn" nicht wert sind, muß der Unternehmer entlassen; es bleiben also überall nur die tüchtigsten in Arbeit. In England haben die Gewerkvereine diesen Zustand herbeigeführt; indem die Tüchtigsten allen zu helfen gedachten, haben sie nur sich selbst geholfen auf Kohle» der Untüchtigen. So wirken denn beide Ma߬ regeln den Absichten entgegen, die die Sozialisten bei ihrer Empfehlung hege»; sozialistisch würden sie erst wirken, wenn damit die Versicherung gegen Arbeits¬ losigkeit verbunden würde, d. h. wenn der Staat den ausgeschicdnen Untaug¬ lichen eine lebenslängliche Pension zahlte und sie so besser stellte als die Tauglichen. „Das ist ja der Fluch des Sozialismus, daß seine Bemühungen im Dienste eines unklar vorgestellten Ideals von Menschenglück immer mir den Lumpen und Krüppeln zu gute kommen können, daß er unbewußt das Untaugliche fördert auf Kosten des Tauglichen und das Kranke auf Kosten des Gesunden. Das ist aber bei der herrschenden Gefühlsverweichlichung in sozialen Dingen auch der Kern des Zaubers, den er auf schwärmerische Ge¬ müter, namentlich auf Frauen ausübt, daß er gleich dem Urchristentum alle Mühseligen und Beladue». d. h. in moderner Sprache die physiologisch Un¬ tauglichen und seelisch Entarteten, die Faulenzer und Verbrecher, glorifizirt, weil sie ja nichts dafür können, daß sie so sind und sich nicht selbst so gemacht haben. Dann dürfte man aber auch den Krebs nicht ausschneiden und den Dornbusch nicht abhauen, um eine» Fruchtbaum zu setze». Und vor allem hat sich die Natur ja auch nicht selbst wissentlich so gemacht, wie sie ist, und kann somit nichts dafür, daß es Gesetz in ihr ist, daß alles Krankhafte und Entartete aussterbe, ans daß alles Gesunde und Starke lebe, wachse und gedeihe." Zweifellos ist, daß der „Höchstarbeitstag" und der „Mindestlvhn" in Tilles Sinne selcktionistisch wirken, und daß die englischen Gewerkvereine den Erfolg gehabt haben, den er ihnen zuschreibt. Weniger zweifellos sind die übrigen geschichtlichen Hergange, mit denen er seine Theorie belegt. Was er von der deutschen Reichskommission für Arbeiterstatistik und von den Bückern sagt, müßte man geradezu gemein nennen, wenn er nicht, wie ich annehme, ausschließlich in aristokratischer Umgebung lebte und mit der jenseits davon liegenden Wirklichkeit völlig unbekannt wäre. Hätte er einen Begriff vom Arbeiterleben, so würde er wissen, daß ein Mensch nach täglich sechzehnstündiger Arbeit beim Backofen in der That zu erschöpft ist, noch irgend etwas zu unter¬ nehmen, sei es auch nur die Reinigung seines eignen Körpers, und daß das Reinhalten des Bettes nicht Sache des Gesellen ist, sondern Sache des Meisters. Der Hergang in der englischen Textilindustrie sodann ist mehrfach falsch dargestellt. Nicht nnter der Herrschaft der Fabrikgesetze, sondern zur Zeit des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/11>, abgerufen am 06.01.2025.