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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Liniae Fragen an die Selettionisten

gehabt, die gar nicht zu überschätzen ist, nur liegt sie auf einem ganz andern
Felde, nämlich auf dem der sozialen Auslese. Die Verkürzung der Arbeitszeit
ist eins der wirksamsten Mittel zur Abschüttlung untauglicher Elemente von
einer Industrie. Solange eine Industrie eine sechzehnstündige Arbeitszeit hat,
so lange birgt sie auch in sich Arbeiter, deren Leistungsfähigkeit so gering ist,
daß sie sechzehn Stunden lang arbeiten müssen, um sich ihres Lebens Notdurft
zu verdienen; ja ihre Arbeiterschaft wird sich wesentlich aus solchen Leuten
zusammensetzen, denn die leistungsfähigern Kräfte werden sich Betrieben zu¬
wenden, in denen ihnen die Möglichkeit geboten ist, sich ihren Unterhalt in
kürzerer Zeit zu verdienen." So werde die in einer Industrie übliche Arbeits¬
zeit zum Maßstabe der Leistungsfähigkeit ihrer Arbeiter. Die schlechter"
Arbeiter seien nicht etwa dadurch untauglich geworden, daß sie die lange
Arbeitszeit entkräftet hätte, sondern weil sie kraftlos seien, steckten sie in einer
Industrie mit langer Arbeitszeit. Um 1820 habe die englische Judustric-
arbeiterschaft aus dem Auswurf des Volkes bestanden; wer leistuugsfühig war,
meint Tille, wandte sich damals dem Handwerk, dem Ackerbau, dem Handel,
dem Seedienst zu. Nach der Verkürzung der Arbeitszeit war für solche, die
sechzehn Stunden dazu brauchten, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, in
den Fabriken kein Raum mehr. Sie sanken in die Masse hinab, die bei un¬
regelmäßiger Beschäftigung von Tagelohn lebt, und vou da ins Lumpen¬
proletariat. "Solche Leute bringen es kaum je zu einer regelrechten Ehe.
Haben sie außereheliche Kinder, so ist dafür gesorgt, daß diese früh zu Grunde
gehen. Verkommen sie doch selbst bald genug in Schmutz, Trunk und sexuellen
Lastern, als die Opfer der sozialen Ausscheidung, deren Zugrundegehen sich
noch heute im Osten von London mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit
studiren läßt." In Krefeld haben sehr viele Handwerker den Übergang zur
Fabrikarbeit nicht machen können, weil diese höhere Leistungen fordert. Die
Stadt erhält sie durch Almosen. Das ist ein "tapfrer Unsinn, ein Frevel am
eignen Volke. Durch künstliches Erhalten der Untaugliche" drückt man die
durchschnittliche/Leistung des Volkes herunter, und was uoch schlimmer ist,
dadurch, daß diese minderwertigen Elemente mit höher stehenden in Ehe¬
beziehungen treten, auch die durchschnittliche Kraft." Gleichzeitig mit der
Verkürzung der Arbeitszeit wirkt die Verwendung rascher gehender, die
Arbeiter zu intensiverer Aufmerksamkeit und Arbeit zwingender Maschinen auf
die Ausscheidung der Untauglichen hin. "So sind die nervigen, wohlgenährten
Arbeiter der heutigen englischen Spinnereien nur zu sehr kleinem Prozentsatz
die Nachkommen der hohlwangigen, zitternden Spinner der dreißiger Jahre;
sie stammen zum großen Teile von der damaligen handmerk-, ackerbau- und
handeltreibenden Bevölkerung. Jene hohläugigen, brnstschwachen Spinner aber
sind ausgestorben, zu ihrem eignen, ihres Volkes und der Menschheit Heil."
Demnach ist die Einführung eines "Höchstarbeitstages" "eine fo unsozialistische


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gehabt, die gar nicht zu überschätzen ist, nur liegt sie auf einem ganz andern
Felde, nämlich auf dem der sozialen Auslese. Die Verkürzung der Arbeitszeit
ist eins der wirksamsten Mittel zur Abschüttlung untauglicher Elemente von
einer Industrie. Solange eine Industrie eine sechzehnstündige Arbeitszeit hat,
so lange birgt sie auch in sich Arbeiter, deren Leistungsfähigkeit so gering ist,
daß sie sechzehn Stunden lang arbeiten müssen, um sich ihres Lebens Notdurft
zu verdienen; ja ihre Arbeiterschaft wird sich wesentlich aus solchen Leuten
zusammensetzen, denn die leistungsfähigern Kräfte werden sich Betrieben zu¬
wenden, in denen ihnen die Möglichkeit geboten ist, sich ihren Unterhalt in
kürzerer Zeit zu verdienen." So werde die in einer Industrie übliche Arbeits¬
zeit zum Maßstabe der Leistungsfähigkeit ihrer Arbeiter. Die schlechter»
Arbeiter seien nicht etwa dadurch untauglich geworden, daß sie die lange
Arbeitszeit entkräftet hätte, sondern weil sie kraftlos seien, steckten sie in einer
Industrie mit langer Arbeitszeit. Um 1820 habe die englische Judustric-
arbeiterschaft aus dem Auswurf des Volkes bestanden; wer leistuugsfühig war,
meint Tille, wandte sich damals dem Handwerk, dem Ackerbau, dem Handel,
dem Seedienst zu. Nach der Verkürzung der Arbeitszeit war für solche, die
sechzehn Stunden dazu brauchten, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, in
den Fabriken kein Raum mehr. Sie sanken in die Masse hinab, die bei un¬
regelmäßiger Beschäftigung von Tagelohn lebt, und vou da ins Lumpen¬
proletariat. „Solche Leute bringen es kaum je zu einer regelrechten Ehe.
Haben sie außereheliche Kinder, so ist dafür gesorgt, daß diese früh zu Grunde
gehen. Verkommen sie doch selbst bald genug in Schmutz, Trunk und sexuellen
Lastern, als die Opfer der sozialen Ausscheidung, deren Zugrundegehen sich
noch heute im Osten von London mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit
studiren läßt." In Krefeld haben sehr viele Handwerker den Übergang zur
Fabrikarbeit nicht machen können, weil diese höhere Leistungen fordert. Die
Stadt erhält sie durch Almosen. Das ist ein „tapfrer Unsinn, ein Frevel am
eignen Volke. Durch künstliches Erhalten der Untaugliche» drückt man die
durchschnittliche/Leistung des Volkes herunter, und was uoch schlimmer ist,
dadurch, daß diese minderwertigen Elemente mit höher stehenden in Ehe¬
beziehungen treten, auch die durchschnittliche Kraft." Gleichzeitig mit der
Verkürzung der Arbeitszeit wirkt die Verwendung rascher gehender, die
Arbeiter zu intensiverer Aufmerksamkeit und Arbeit zwingender Maschinen auf
die Ausscheidung der Untauglichen hin. „So sind die nervigen, wohlgenährten
Arbeiter der heutigen englischen Spinnereien nur zu sehr kleinem Prozentsatz
die Nachkommen der hohlwangigen, zitternden Spinner der dreißiger Jahre;
sie stammen zum großen Teile von der damaligen handmerk-, ackerbau- und
handeltreibenden Bevölkerung. Jene hohläugigen, brnstschwachen Spinner aber
sind ausgestorben, zu ihrem eignen, ihres Volkes und der Menschheit Heil."
Demnach ist die Einführung eines „Höchstarbeitstages" „eine fo unsozialistische


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[0010] Liniae Fragen an die Selettionisten gehabt, die gar nicht zu überschätzen ist, nur liegt sie auf einem ganz andern Felde, nämlich auf dem der sozialen Auslese. Die Verkürzung der Arbeitszeit ist eins der wirksamsten Mittel zur Abschüttlung untauglicher Elemente von einer Industrie. Solange eine Industrie eine sechzehnstündige Arbeitszeit hat, so lange birgt sie auch in sich Arbeiter, deren Leistungsfähigkeit so gering ist, daß sie sechzehn Stunden lang arbeiten müssen, um sich ihres Lebens Notdurft zu verdienen; ja ihre Arbeiterschaft wird sich wesentlich aus solchen Leuten zusammensetzen, denn die leistungsfähigern Kräfte werden sich Betrieben zu¬ wenden, in denen ihnen die Möglichkeit geboten ist, sich ihren Unterhalt in kürzerer Zeit zu verdienen." So werde die in einer Industrie übliche Arbeits¬ zeit zum Maßstabe der Leistungsfähigkeit ihrer Arbeiter. Die schlechter» Arbeiter seien nicht etwa dadurch untauglich geworden, daß sie die lange Arbeitszeit entkräftet hätte, sondern weil sie kraftlos seien, steckten sie in einer Industrie mit langer Arbeitszeit. Um 1820 habe die englische Judustric- arbeiterschaft aus dem Auswurf des Volkes bestanden; wer leistuugsfühig war, meint Tille, wandte sich damals dem Handwerk, dem Ackerbau, dem Handel, dem Seedienst zu. Nach der Verkürzung der Arbeitszeit war für solche, die sechzehn Stunden dazu brauchten, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, in den Fabriken kein Raum mehr. Sie sanken in die Masse hinab, die bei un¬ regelmäßiger Beschäftigung von Tagelohn lebt, und vou da ins Lumpen¬ proletariat. „Solche Leute bringen es kaum je zu einer regelrechten Ehe. Haben sie außereheliche Kinder, so ist dafür gesorgt, daß diese früh zu Grunde gehen. Verkommen sie doch selbst bald genug in Schmutz, Trunk und sexuellen Lastern, als die Opfer der sozialen Ausscheidung, deren Zugrundegehen sich noch heute im Osten von London mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit studiren läßt." In Krefeld haben sehr viele Handwerker den Übergang zur Fabrikarbeit nicht machen können, weil diese höhere Leistungen fordert. Die Stadt erhält sie durch Almosen. Das ist ein „tapfrer Unsinn, ein Frevel am eignen Volke. Durch künstliches Erhalten der Untaugliche» drückt man die durchschnittliche/Leistung des Volkes herunter, und was uoch schlimmer ist, dadurch, daß diese minderwertigen Elemente mit höher stehenden in Ehe¬ beziehungen treten, auch die durchschnittliche Kraft." Gleichzeitig mit der Verkürzung der Arbeitszeit wirkt die Verwendung rascher gehender, die Arbeiter zu intensiverer Aufmerksamkeit und Arbeit zwingender Maschinen auf die Ausscheidung der Untauglichen hin. „So sind die nervigen, wohlgenährten Arbeiter der heutigen englischen Spinnereien nur zu sehr kleinem Prozentsatz die Nachkommen der hohlwangigen, zitternden Spinner der dreißiger Jahre; sie stammen zum großen Teile von der damaligen handmerk-, ackerbau- und handeltreibenden Bevölkerung. Jene hohläugigen, brnstschwachen Spinner aber sind ausgestorben, zu ihrem eignen, ihres Volkes und der Menschheit Heil." Demnach ist die Einführung eines „Höchstarbeitstages" „eine fo unsozialistische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/10>, abgerufen am 06.01.2025.