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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Gvangelisch-sozial

Wüste in seiner Partei; ihre Organe schwiegen ihn tot. Als er sich 1862
scharf von der Partei trennte, antwortete man ihm mit dem stolzen Hinweis
auf die soziale Thätigkeit der großen Grundbesitzer, die so umfassendes zur
Erziehung und Hebung der Genossenschaften ihres Hauses, ihrer Gemeinden
und Kreise leisteten, und erklärte, er wolle den Staat in eine große Suppen-
anstalt verwandeln und gern selbst ihr oberster Dirigent werden. In einem
andern Punkte näherte sich Huber den Christlich-sozialen unsrer Tage mehr,
als Göhre annimmt. Er ging freilich von einer patriarchalischen Beurteilung
der hilfebedürftigen Volkskreise aus und glaubte, daß Genossenschaften der
Arbeiter uur unter Hilfe und Leitung der christlichen Gebildeten und Besitzenden
möglich seien; aber seine nachdrückliche Betonung der Selbsthilfe war nur
möglich, weil er die Zeiten des "Patriarchalismus" für beendigt hielt und
dem Arbeiter das Recht zusprach, sich mit den Genossen zu einem kräftigen
Ganzen zu verbinden und so als Macht gegen die Macht der Arbeitgeber auf¬
zutreten und als gleichberechtigtes Glied das gegenseitige Verhältnis zu regeln.
lHuber, Über Arbeiterkoalitionen, 1865.) Seine Stellung zur Lassallischen Be¬
wegung ist für Evangelisch-soziale, wie Göhre sagt, nicht vorbildlich und grund¬
legend. Ganz abgesehen von den politischen Unterschieden verwarf er die
Staatshilfe entschieden; "die freie Bindung zu gemeinsamer Kraft allein kann
das (soziale) Atom vor deu Gefahren der Freiheit schützen." Dieser Stand-
Punkt, der ihn auch zum Gegner der Zunftreaktion machte, unterscheidet ihn
von den Evangelisch-sozialen, als deren Losung Göhre das "Vierwort" hin¬
stellt: Selbsthilfe, Bruderhilfe. Staatshilfe, Gotteshilfe.

Ohne die einzelnen Verbindungsfäden nachzuweisen, kann man sagen, daß
die evangelisch-soziale Bewegung zweierlei aus ihrem ursprünglichen Zusammen¬
hange mit den Konservativen mitgenommen hat (Todt und Stöcker waren beide
Konservative), zweierlei, das hemmend auf ihre Entwicklung einwirkte. Das
eine, die orthodox-pietistische Färbung, die mit dem Konservativismus stets
verbunden war und bei den Stöckerschen Christlich-sozialen noch überwiegt, hat
anfangs die Verbreitung der neuen Ideen aufgehalten, ist aber seit der Grün¬
dung des Evangelisch-sozialen Kongresses so zurückgetreten, daß auch sein letztes
Auftauchen bei dem Austritt Stöckers aus dem Kongreß keine Trennung in
größerm Umfange herbeigeführt hat. Das zweite, die konservativ-politische Ge¬
sinnung, die Todt und vor allem Stöcker der Bewegung einflößten, wird von
Göhre in geschickter Weise in ihrem entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung
verfolgt. Sie zeigt sich schon in dem Zentralverein und seinem kurzlebigen Organ,
dem Staatssozialisten, sie kennzeichnet die Entwicklung der christlich-sozialen
Arbeiterpartei Stöckers von 1873 zur konservativen christlich-sozialen Partei,
ihre Spuren findet man in der Geschichte der Evangelischen Arbeitervereine,
und die Wogen dieser Streitigkeiten schlagen bis in den Evangelisch-sozialen
Kongreß hinein.


Gvangelisch-sozial

Wüste in seiner Partei; ihre Organe schwiegen ihn tot. Als er sich 1862
scharf von der Partei trennte, antwortete man ihm mit dem stolzen Hinweis
auf die soziale Thätigkeit der großen Grundbesitzer, die so umfassendes zur
Erziehung und Hebung der Genossenschaften ihres Hauses, ihrer Gemeinden
und Kreise leisteten, und erklärte, er wolle den Staat in eine große Suppen-
anstalt verwandeln und gern selbst ihr oberster Dirigent werden. In einem
andern Punkte näherte sich Huber den Christlich-sozialen unsrer Tage mehr,
als Göhre annimmt. Er ging freilich von einer patriarchalischen Beurteilung
der hilfebedürftigen Volkskreise aus und glaubte, daß Genossenschaften der
Arbeiter uur unter Hilfe und Leitung der christlichen Gebildeten und Besitzenden
möglich seien; aber seine nachdrückliche Betonung der Selbsthilfe war nur
möglich, weil er die Zeiten des „Patriarchalismus" für beendigt hielt und
dem Arbeiter das Recht zusprach, sich mit den Genossen zu einem kräftigen
Ganzen zu verbinden und so als Macht gegen die Macht der Arbeitgeber auf¬
zutreten und als gleichberechtigtes Glied das gegenseitige Verhältnis zu regeln.
lHuber, Über Arbeiterkoalitionen, 1865.) Seine Stellung zur Lassallischen Be¬
wegung ist für Evangelisch-soziale, wie Göhre sagt, nicht vorbildlich und grund¬
legend. Ganz abgesehen von den politischen Unterschieden verwarf er die
Staatshilfe entschieden; „die freie Bindung zu gemeinsamer Kraft allein kann
das (soziale) Atom vor deu Gefahren der Freiheit schützen." Dieser Stand-
Punkt, der ihn auch zum Gegner der Zunftreaktion machte, unterscheidet ihn
von den Evangelisch-sozialen, als deren Losung Göhre das „Vierwort" hin¬
stellt: Selbsthilfe, Bruderhilfe. Staatshilfe, Gotteshilfe.

Ohne die einzelnen Verbindungsfäden nachzuweisen, kann man sagen, daß
die evangelisch-soziale Bewegung zweierlei aus ihrem ursprünglichen Zusammen¬
hange mit den Konservativen mitgenommen hat (Todt und Stöcker waren beide
Konservative), zweierlei, das hemmend auf ihre Entwicklung einwirkte. Das
eine, die orthodox-pietistische Färbung, die mit dem Konservativismus stets
verbunden war und bei den Stöckerschen Christlich-sozialen noch überwiegt, hat
anfangs die Verbreitung der neuen Ideen aufgehalten, ist aber seit der Grün¬
dung des Evangelisch-sozialen Kongresses so zurückgetreten, daß auch sein letztes
Auftauchen bei dem Austritt Stöckers aus dem Kongreß keine Trennung in
größerm Umfange herbeigeführt hat. Das zweite, die konservativ-politische Ge¬
sinnung, die Todt und vor allem Stöcker der Bewegung einflößten, wird von
Göhre in geschickter Weise in ihrem entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung
verfolgt. Sie zeigt sich schon in dem Zentralverein und seinem kurzlebigen Organ,
dem Staatssozialisten, sie kennzeichnet die Entwicklung der christlich-sozialen
Arbeiterpartei Stöckers von 1873 zur konservativen christlich-sozialen Partei,
ihre Spuren findet man in der Geschichte der Evangelischen Arbeitervereine,
und die Wogen dieser Streitigkeiten schlagen bis in den Evangelisch-sozialen
Kongreß hinein.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/87>, abgerufen am 01.09.2024.