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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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ausgesetzt sein. Will man ihre Bedeutung erkennen, so muß man erst in
diesem Wirrwarr Klarheit schaffen und aus alledem, was sich an ihren
Namen gehängt hat, das bedeutende und entscheidende heraussuchen. Dazu
gehört aber nicht nur ein ruhiger, sicherer Blick, der wesentliches und unwesent¬
liches unterscheiden kann, sondern vor allem eine genaue Kenntnis vieler ein¬
zelnen Vorgänge, die bei jungen Richtungen nur der haben kann, der mitten
drin steht. Zu ihrem Verständnis sind daher vor allem die lebenswarmen
Schilderungen eines Mitglieds oder Führers von Wert; nur sie ermöglichen
dem ein eignes Urteil, der außerhalb der Bewegung steht.

Für die evangelisch-soziale Bewegung giebt einer der jüngern Christlich¬
sozialen, der in ihr seit mehrern Jahren thätig gewesen ist, P. Göhre in
Frankfurt a. O. eine Darstellung ihrer Geschichte und ihrer Ziele. Den Anstoß
zu dieser Schrift haben dem Verfasser die Reibungen gegeben, die innerhalb
der Bewegung in letzter Zeit bemerkbar wurden, und von denen weitern Kreisen
der Streit der Alten und der Jungen besonders bekannt ist. Er will den
Weg aus diesen Schwierigkeiten heraus finden und für die Entwicklung, die er
für nötig hält, Freunde gewinnen. Doch nicht auf diesen Ausführungen, die
das letzte Kapitel über die Zukunft ausfüllen, ruht der eigentliche Wert des
Werkchens, sondern auf der geschichtlichen Darstellung, auf den Thatsachen.
Ein so reiches Material über die evangelisch-sozialen Bestrebungen bis zu den
letzten Ereignissen hin findet sich noch nirgends zusammen. Die Christlich¬
sozialen älterer Richtung haben eine Darstellung ihrer Geschichte durch Stöcker
und andre gefunden, für die jüngern wie für die Evangelischen Arbeitervereine
und den Evangelisch-sozialen Kongreß fehlte sie bisher.

Die Christlich-sozialen Bestrebungen auf evangelischem Boden beginnen
mit dem Werke von Todt: "Der radikale deutsche Sozialismus und die christ¬
liche Gesellschaft" und dem "Zentralverein für Sozialreform auf religiöser und
konstitutionell-monarchischer Grundlage," beide vom Jahre 1877. Göhre führt
die ersten Anfänge noch weiter zurück bis auf Wiehern, dessen Gedanke einer
sozialen Reform für das ganze Volk in seiner Wohlthütigkeitsarbeit unterging,
und auf V. A. Huber, dessen genossenschaftliches Programm er das erste
eigentlich evangelisch-soziale Programm nennt. Wohl kaum mit Recht; denn
auf Todt wie auf Stöcker hat entschieden der Sozialkonservative Rudolf Meyer
weit mehr eingewirkt als Huber. Die evangelisch-sozialen Ideen vor 1877
aufsuchen, heißt einer solchen Menge von Einzelheiten nachgehen, daß man sich
in eine vollständige politische und kirchliche Geschichte seit 1348 verlieren
würde. Allerdings besteht eine Verwandtschaft zwischen dem Auftreten Hubers
und der evangelisch-sozialen Bewegung. Ich würde da vor allem auf die Er¬
fahrungen hinweisen, die er mit seinen sozialen Reformplünen in der konser¬
vativen Partei gemacht hat, und die mit denen Stöckers ganz übereinstimmen.
Huber war mit seinen Ideen, wie Lassalle ihm schrieb, ein Prediger in der


Lvangelisch-sozial

ausgesetzt sein. Will man ihre Bedeutung erkennen, so muß man erst in
diesem Wirrwarr Klarheit schaffen und aus alledem, was sich an ihren
Namen gehängt hat, das bedeutende und entscheidende heraussuchen. Dazu
gehört aber nicht nur ein ruhiger, sicherer Blick, der wesentliches und unwesent¬
liches unterscheiden kann, sondern vor allem eine genaue Kenntnis vieler ein¬
zelnen Vorgänge, die bei jungen Richtungen nur der haben kann, der mitten
drin steht. Zu ihrem Verständnis sind daher vor allem die lebenswarmen
Schilderungen eines Mitglieds oder Führers von Wert; nur sie ermöglichen
dem ein eignes Urteil, der außerhalb der Bewegung steht.

Für die evangelisch-soziale Bewegung giebt einer der jüngern Christlich¬
sozialen, der in ihr seit mehrern Jahren thätig gewesen ist, P. Göhre in
Frankfurt a. O. eine Darstellung ihrer Geschichte und ihrer Ziele. Den Anstoß
zu dieser Schrift haben dem Verfasser die Reibungen gegeben, die innerhalb
der Bewegung in letzter Zeit bemerkbar wurden, und von denen weitern Kreisen
der Streit der Alten und der Jungen besonders bekannt ist. Er will den
Weg aus diesen Schwierigkeiten heraus finden und für die Entwicklung, die er
für nötig hält, Freunde gewinnen. Doch nicht auf diesen Ausführungen, die
das letzte Kapitel über die Zukunft ausfüllen, ruht der eigentliche Wert des
Werkchens, sondern auf der geschichtlichen Darstellung, auf den Thatsachen.
Ein so reiches Material über die evangelisch-sozialen Bestrebungen bis zu den
letzten Ereignissen hin findet sich noch nirgends zusammen. Die Christlich¬
sozialen älterer Richtung haben eine Darstellung ihrer Geschichte durch Stöcker
und andre gefunden, für die jüngern wie für die Evangelischen Arbeitervereine
und den Evangelisch-sozialen Kongreß fehlte sie bisher.

Die Christlich-sozialen Bestrebungen auf evangelischem Boden beginnen
mit dem Werke von Todt: „Der radikale deutsche Sozialismus und die christ¬
liche Gesellschaft" und dem „Zentralverein für Sozialreform auf religiöser und
konstitutionell-monarchischer Grundlage," beide vom Jahre 1877. Göhre führt
die ersten Anfänge noch weiter zurück bis auf Wiehern, dessen Gedanke einer
sozialen Reform für das ganze Volk in seiner Wohlthütigkeitsarbeit unterging,
und auf V. A. Huber, dessen genossenschaftliches Programm er das erste
eigentlich evangelisch-soziale Programm nennt. Wohl kaum mit Recht; denn
auf Todt wie auf Stöcker hat entschieden der Sozialkonservative Rudolf Meyer
weit mehr eingewirkt als Huber. Die evangelisch-sozialen Ideen vor 1877
aufsuchen, heißt einer solchen Menge von Einzelheiten nachgehen, daß man sich
in eine vollständige politische und kirchliche Geschichte seit 1348 verlieren
würde. Allerdings besteht eine Verwandtschaft zwischen dem Auftreten Hubers
und der evangelisch-sozialen Bewegung. Ich würde da vor allem auf die Er¬
fahrungen hinweisen, die er mit seinen sozialen Reformplünen in der konser¬
vativen Partei gemacht hat, und die mit denen Stöckers ganz übereinstimmen.
Huber war mit seinen Ideen, wie Lassalle ihm schrieb, ein Prediger in der


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[0086] Lvangelisch-sozial ausgesetzt sein. Will man ihre Bedeutung erkennen, so muß man erst in diesem Wirrwarr Klarheit schaffen und aus alledem, was sich an ihren Namen gehängt hat, das bedeutende und entscheidende heraussuchen. Dazu gehört aber nicht nur ein ruhiger, sicherer Blick, der wesentliches und unwesent¬ liches unterscheiden kann, sondern vor allem eine genaue Kenntnis vieler ein¬ zelnen Vorgänge, die bei jungen Richtungen nur der haben kann, der mitten drin steht. Zu ihrem Verständnis sind daher vor allem die lebenswarmen Schilderungen eines Mitglieds oder Führers von Wert; nur sie ermöglichen dem ein eignes Urteil, der außerhalb der Bewegung steht. Für die evangelisch-soziale Bewegung giebt einer der jüngern Christlich¬ sozialen, der in ihr seit mehrern Jahren thätig gewesen ist, P. Göhre in Frankfurt a. O. eine Darstellung ihrer Geschichte und ihrer Ziele. Den Anstoß zu dieser Schrift haben dem Verfasser die Reibungen gegeben, die innerhalb der Bewegung in letzter Zeit bemerkbar wurden, und von denen weitern Kreisen der Streit der Alten und der Jungen besonders bekannt ist. Er will den Weg aus diesen Schwierigkeiten heraus finden und für die Entwicklung, die er für nötig hält, Freunde gewinnen. Doch nicht auf diesen Ausführungen, die das letzte Kapitel über die Zukunft ausfüllen, ruht der eigentliche Wert des Werkchens, sondern auf der geschichtlichen Darstellung, auf den Thatsachen. Ein so reiches Material über die evangelisch-sozialen Bestrebungen bis zu den letzten Ereignissen hin findet sich noch nirgends zusammen. Die Christlich¬ sozialen älterer Richtung haben eine Darstellung ihrer Geschichte durch Stöcker und andre gefunden, für die jüngern wie für die Evangelischen Arbeitervereine und den Evangelisch-sozialen Kongreß fehlte sie bisher. Die Christlich-sozialen Bestrebungen auf evangelischem Boden beginnen mit dem Werke von Todt: „Der radikale deutsche Sozialismus und die christ¬ liche Gesellschaft" und dem „Zentralverein für Sozialreform auf religiöser und konstitutionell-monarchischer Grundlage," beide vom Jahre 1877. Göhre führt die ersten Anfänge noch weiter zurück bis auf Wiehern, dessen Gedanke einer sozialen Reform für das ganze Volk in seiner Wohlthütigkeitsarbeit unterging, und auf V. A. Huber, dessen genossenschaftliches Programm er das erste eigentlich evangelisch-soziale Programm nennt. Wohl kaum mit Recht; denn auf Todt wie auf Stöcker hat entschieden der Sozialkonservative Rudolf Meyer weit mehr eingewirkt als Huber. Die evangelisch-sozialen Ideen vor 1877 aufsuchen, heißt einer solchen Menge von Einzelheiten nachgehen, daß man sich in eine vollständige politische und kirchliche Geschichte seit 1348 verlieren würde. Allerdings besteht eine Verwandtschaft zwischen dem Auftreten Hubers und der evangelisch-sozialen Bewegung. Ich würde da vor allem auf die Er¬ fahrungen hinweisen, die er mit seinen sozialen Reformplünen in der konser¬ vativen Partei gemacht hat, und die mit denen Stöckers ganz übereinstimmen. Huber war mit seinen Ideen, wie Lassalle ihm schrieb, ein Prediger in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/86>, abgerufen am 01.09.2024.