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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Evangelisch-sozial

Die 78 er Partei, die selbständig neben der konservativen stand, war zum
ersten male eine selbständige Partei des großindustriellen Arbeiters auf christ¬
licher Grundlage, ihre-Tendenz rein arbeiterfrenndlich, ja proletarisch. Aber
mit dem Sozialistengesetz hörte für sie der Zuzug von Arbeitern auf, an ihre
Stelle trat der Mittelstand: kleine Handwerker, Kaufleute, Beamte und sozial¬
gesinnte Glieder höherer Stände. In diesem Wechsel sieht der Verfasser mit
vollem Recht den Grund, daß die Berliner Bewegung' ein neues Stück in ihr
Programm aufnahm, den Antisemitismus, das politische Ideal des Mittel¬
standes, das bei allen Mittelstandsparteien der letzten Jahre auftritt. so¬
lange die Bewegung vor allem Arbeiter umfaßte, war zu seiner Betonung kein
Anlaß da, seitdem sich besonders unter Naumanns Führung die jüngere Rich¬
tung wieder grundsätzlich zu einer Arbeiterpartei entwickelt, tritt er in den
Hintergrund, da der Arbeiter an ihm kein Interesse hat. Ein organischer Zu-
sammenhang von arbeiterfreundlich und antisemitisch, von christlich-sozial und
antisemitisch besteht nicht; nur die veränderte Zusammensetzung und die scham¬
losen Angriffe jüdischer Zeitungen brachten 1879 Stöcker und die Seinen zum
Antisemitismus. Bald darnach gingen sie mit ihren christlich-sozialen und
antisemitischen Ideen in die Berliner konservative Bewegung und die konser¬
vative Partei auf, in der es ihnen wie Huber erging. Sie mußten erfahren,
daß sich die "soziale Thätigkeit der Großgrmidbesitzer" mit ernsten sozialen Re¬
formen nicht verträgt. So organisirten sie sich schon 1895 mit einem eignen
Programm zu Eisenach, zunächst noch innerhalb der konservativen Partei, bis
sie diese vor kurzem ganz hinausdrängte. Ihr eigentliches Kennzeichen ist neben
dem Antisemitismus der in ihrer Entwicklung gegebne Gedanke, konservative
und arbeiterfreundliche, proletarische Gesinnung zu vereinigen.

Daneben hatte sich im Anschluß an die Evangelischen Arbeitervereine eine
jüngere Richtung gebildet, besonders durch Naumann vertreten und dnrch
dessen Wort bestimmt: "Ihr konnt nicht christlich-sozial sein und konservativ."
Die Evangelischen Arbeitervereine, im Rheinland von Bergarbeitern gegen die
katholischem ins Leben gerufen und bald von Geistlichen gestützt, hatten erst
im Gegensatz zu Rom, dann zur Sozialdemokratie wesentlich die konservative
christlich-soziale Färbung Stöckers angenommen. Aber bei ihrer weitern Ver¬
breitung trat, besouders in den mittelrheinischen, württembergischen und badischen
Verbänden, das proletarische Interesse stärker hervor, an ihm bildeten sich die
Anhänger Naumanns zu dem Ziele, nicht bloß sozial versöhnend zu wirken,
souderu vor allem die Interessen der Arbeiter zu vertreten. Dieser politische
Gegensatz liegt allen Kämpfen in den Vereinen zu Gründe; er ist trotz neuer
Programme noch nicht überwunden, wenn auch die Jungen stetig vordringen.

Das politische Element überwiegt allerdings nicht so sehr in den Arbeiter¬
vereinen, da sie mehr religiöse Erbannngs- und Bildungsvereine, nicht poli¬
tische Vereinigungen sind. Sie sind gerade darin richtige Erzeugnisse der


Evangelisch-sozial

Die 78 er Partei, die selbständig neben der konservativen stand, war zum
ersten male eine selbständige Partei des großindustriellen Arbeiters auf christ¬
licher Grundlage, ihre-Tendenz rein arbeiterfrenndlich, ja proletarisch. Aber
mit dem Sozialistengesetz hörte für sie der Zuzug von Arbeitern auf, an ihre
Stelle trat der Mittelstand: kleine Handwerker, Kaufleute, Beamte und sozial¬
gesinnte Glieder höherer Stände. In diesem Wechsel sieht der Verfasser mit
vollem Recht den Grund, daß die Berliner Bewegung' ein neues Stück in ihr
Programm aufnahm, den Antisemitismus, das politische Ideal des Mittel¬
standes, das bei allen Mittelstandsparteien der letzten Jahre auftritt. so¬
lange die Bewegung vor allem Arbeiter umfaßte, war zu seiner Betonung kein
Anlaß da, seitdem sich besonders unter Naumanns Führung die jüngere Rich¬
tung wieder grundsätzlich zu einer Arbeiterpartei entwickelt, tritt er in den
Hintergrund, da der Arbeiter an ihm kein Interesse hat. Ein organischer Zu-
sammenhang von arbeiterfreundlich und antisemitisch, von christlich-sozial und
antisemitisch besteht nicht; nur die veränderte Zusammensetzung und die scham¬
losen Angriffe jüdischer Zeitungen brachten 1879 Stöcker und die Seinen zum
Antisemitismus. Bald darnach gingen sie mit ihren christlich-sozialen und
antisemitischen Ideen in die Berliner konservative Bewegung und die konser¬
vative Partei auf, in der es ihnen wie Huber erging. Sie mußten erfahren,
daß sich die „soziale Thätigkeit der Großgrmidbesitzer" mit ernsten sozialen Re¬
formen nicht verträgt. So organisirten sie sich schon 1895 mit einem eignen
Programm zu Eisenach, zunächst noch innerhalb der konservativen Partei, bis
sie diese vor kurzem ganz hinausdrängte. Ihr eigentliches Kennzeichen ist neben
dem Antisemitismus der in ihrer Entwicklung gegebne Gedanke, konservative
und arbeiterfreundliche, proletarische Gesinnung zu vereinigen.

Daneben hatte sich im Anschluß an die Evangelischen Arbeitervereine eine
jüngere Richtung gebildet, besonders durch Naumann vertreten und dnrch
dessen Wort bestimmt: „Ihr konnt nicht christlich-sozial sein und konservativ."
Die Evangelischen Arbeitervereine, im Rheinland von Bergarbeitern gegen die
katholischem ins Leben gerufen und bald von Geistlichen gestützt, hatten erst
im Gegensatz zu Rom, dann zur Sozialdemokratie wesentlich die konservative
christlich-soziale Färbung Stöckers angenommen. Aber bei ihrer weitern Ver¬
breitung trat, besouders in den mittelrheinischen, württembergischen und badischen
Verbänden, das proletarische Interesse stärker hervor, an ihm bildeten sich die
Anhänger Naumanns zu dem Ziele, nicht bloß sozial versöhnend zu wirken,
souderu vor allem die Interessen der Arbeiter zu vertreten. Dieser politische
Gegensatz liegt allen Kämpfen in den Vereinen zu Gründe; er ist trotz neuer
Programme noch nicht überwunden, wenn auch die Jungen stetig vordringen.

Das politische Element überwiegt allerdings nicht so sehr in den Arbeiter¬
vereinen, da sie mehr religiöse Erbannngs- und Bildungsvereine, nicht poli¬
tische Vereinigungen sind. Sie sind gerade darin richtige Erzeugnisse der


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[0088] Evangelisch-sozial Die 78 er Partei, die selbständig neben der konservativen stand, war zum ersten male eine selbständige Partei des großindustriellen Arbeiters auf christ¬ licher Grundlage, ihre-Tendenz rein arbeiterfrenndlich, ja proletarisch. Aber mit dem Sozialistengesetz hörte für sie der Zuzug von Arbeitern auf, an ihre Stelle trat der Mittelstand: kleine Handwerker, Kaufleute, Beamte und sozial¬ gesinnte Glieder höherer Stände. In diesem Wechsel sieht der Verfasser mit vollem Recht den Grund, daß die Berliner Bewegung' ein neues Stück in ihr Programm aufnahm, den Antisemitismus, das politische Ideal des Mittel¬ standes, das bei allen Mittelstandsparteien der letzten Jahre auftritt. so¬ lange die Bewegung vor allem Arbeiter umfaßte, war zu seiner Betonung kein Anlaß da, seitdem sich besonders unter Naumanns Führung die jüngere Rich¬ tung wieder grundsätzlich zu einer Arbeiterpartei entwickelt, tritt er in den Hintergrund, da der Arbeiter an ihm kein Interesse hat. Ein organischer Zu- sammenhang von arbeiterfreundlich und antisemitisch, von christlich-sozial und antisemitisch besteht nicht; nur die veränderte Zusammensetzung und die scham¬ losen Angriffe jüdischer Zeitungen brachten 1879 Stöcker und die Seinen zum Antisemitismus. Bald darnach gingen sie mit ihren christlich-sozialen und antisemitischen Ideen in die Berliner konservative Bewegung und die konser¬ vative Partei auf, in der es ihnen wie Huber erging. Sie mußten erfahren, daß sich die „soziale Thätigkeit der Großgrmidbesitzer" mit ernsten sozialen Re¬ formen nicht verträgt. So organisirten sie sich schon 1895 mit einem eignen Programm zu Eisenach, zunächst noch innerhalb der konservativen Partei, bis sie diese vor kurzem ganz hinausdrängte. Ihr eigentliches Kennzeichen ist neben dem Antisemitismus der in ihrer Entwicklung gegebne Gedanke, konservative und arbeiterfreundliche, proletarische Gesinnung zu vereinigen. Daneben hatte sich im Anschluß an die Evangelischen Arbeitervereine eine jüngere Richtung gebildet, besonders durch Naumann vertreten und dnrch dessen Wort bestimmt: „Ihr konnt nicht christlich-sozial sein und konservativ." Die Evangelischen Arbeitervereine, im Rheinland von Bergarbeitern gegen die katholischem ins Leben gerufen und bald von Geistlichen gestützt, hatten erst im Gegensatz zu Rom, dann zur Sozialdemokratie wesentlich die konservative christlich-soziale Färbung Stöckers angenommen. Aber bei ihrer weitern Ver¬ breitung trat, besouders in den mittelrheinischen, württembergischen und badischen Verbänden, das proletarische Interesse stärker hervor, an ihm bildeten sich die Anhänger Naumanns zu dem Ziele, nicht bloß sozial versöhnend zu wirken, souderu vor allem die Interessen der Arbeiter zu vertreten. Dieser politische Gegensatz liegt allen Kämpfen in den Vereinen zu Gründe; er ist trotz neuer Programme noch nicht überwunden, wenn auch die Jungen stetig vordringen. Das politische Element überwiegt allerdings nicht so sehr in den Arbeiter¬ vereinen, da sie mehr religiöse Erbannngs- und Bildungsvereine, nicht poli¬ tische Vereinigungen sind. Sie sind gerade darin richtige Erzeugnisse der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/88>, abgerufen am 01.09.2024.