Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg Hebung des Vesserwissens, eine Erschütterung der Rechtssicherheit. Daß die Die öffentliche Meinung, deren Urteil doch schließlich der einzige Ma߬ Jeder Gerichtshof, der nur vou einem einzigen Richter besetzt ist, ist einem Jedes strafrechtliche Hauptverfahren, es mag mit einer Freisprechung oder Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg Hebung des Vesserwissens, eine Erschütterung der Rechtssicherheit. Daß die Die öffentliche Meinung, deren Urteil doch schließlich der einzige Ma߬ Jeder Gerichtshof, der nur vou einem einzigen Richter besetzt ist, ist einem Jedes strafrechtliche Hauptverfahren, es mag mit einer Freisprechung oder <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0591" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223533"/> <fw type="header" place="top"> Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg</fw><lb/> <p xml:id="ID_1646" prev="#ID_1645"> Hebung des Vesserwissens, eine Erschütterung der Rechtssicherheit. Daß die<lb/> Berufung diesen Gang nimmt, ist keine leere Vermutung, sondern eine That¬<lb/> sache, die alle ältern Juristen, die schon vor 1879 im preußischen Staatsdienst<lb/> waren, erfahren konnten, eine Thatsache, zu der man sich damals ganz offen<lb/> ein einem der bedeutendsten, von Referendaren zu ihrer Ausbildung am liebsten<lb/> aufgesuchten Appellationsgerichte bei der Urteilsverkündigung bekannte. Man<lb/> muß die Bedeutung des Verantwortungsgefühls des Richters sehr niedrig<lb/> anschlagen oder ganz außer Acht lassen, um in der Berufung eine zuverlässige<lb/> Maßregel der Sicherung und Verbesserung der Rechtspflege zu scheu.</p><lb/> <p xml:id="ID_1647"> Die öffentliche Meinung, deren Urteil doch schließlich der einzige Ma߬<lb/> stab dafür ist, ob eine Rechtspflege befriedigt, ob sie gut oder verbesserungs¬<lb/> bedürftig ist, bedarf noch mehr der leitenden Grundsätze wie der Jurist, weil<lb/> sie sich nur mit diesen beschäftigen und unmöglich in die kleinen Einzelheiten<lb/> vertiefen kann wie der Fachmann. Es wäre deshalb verfehlt, in dem vor¬<lb/> liegenden Aufsatze, der sich nicht an den Juristen, sondern an die öffentliche<lb/> Meinung wendet, auf die vielfachen Mängel unsers Strafverfahrens im ein¬<lb/> zelnen einzugehen. Kurz hervorheben will ich nur noch die leicht erkennbaren<lb/> und sehr wesentlichen Mängel, die sich aus drei gesetzlichen Einrichtungen er¬<lb/> geben, und zwar aus der Bildung einzelner Kollegialgcrichte durch die geringe<lb/> Zahl von drei Mitgliedern und sodann aus den Vorschriften über die Eröff¬<lb/> nung des Hauptverfahrens und über die gerichtliche Eidesleistung.</p><lb/> <p xml:id="ID_1648"> Jeder Gerichtshof, der nur vou einem einzigen Richter besetzt ist, ist einem<lb/> Kollegialgericht ohne öffentliche Stimmabgabe vorzuziehen, da bei dem Einzel-<lb/> gcricht doch wenigstens eiuer vorhanden ist, der die volle Verantwortung<lb/> seines Spruches trägt. Das unbrauchbarste unter den Kollegialgerichten muß<lb/> aber das sein, das in der Besetzung mit drei Richtern zu entscheiden hat.<lb/> Ein solches Gericht läuft stets Gefahr, ein verschleiertes, seiner Vorteile ent¬<lb/> kleidetes Einzelgericht zu werden. Geschieht das durch die Überlegenheit eines<lb/> Mitgliedes, so ist der Schade verhältnismüßig am geringsten. Viel näher<lb/> liegt aber die Gefahr, daß der Vorsitzende durch unwillkürlichen Mißbrauch<lb/> seiner Stellung seine eigne überzeugungstreue Meinung durchsetzt. Wie sollte<lb/> das auch anders sein? Schon der Umstand, daß er die Beratung leitet, giebt<lb/> ihm die Macht, eine Sache nicht eher für spruchreif zu halten, als bis sich<lb/> wenigstens ein Beisitzer zu seiner Ansicht bequemt, dann aber auch sofort zur<lb/> Abstimmung zu schreiten. Man wird aber zugeben müssen, daß derselbe Vor¬<lb/> sitzende, wenn er allein auf sich augewiesen wäre, unter einem ganz andern<lb/> Verantwortlichkeitsgefühl mit sich selbst zu Rate gegangen wäre.</p><lb/> <p xml:id="ID_1649" next="#ID_1650"> Jedes strafrechtliche Hauptverfahren, es mag mit einer Freisprechung oder<lb/> einer Verurteilung enden, setzt voraus, daß gegen deu Angeklagten ein Gerichts¬<lb/> beschluß ergangen ist, durch den er für hinreichend verdächtig erachtet wurde,<lb/> um vor Gericht in einem öffentlichen Verfahren abgeurteilt zu werden. Obwohl</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0591]
Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg
Hebung des Vesserwissens, eine Erschütterung der Rechtssicherheit. Daß die
Berufung diesen Gang nimmt, ist keine leere Vermutung, sondern eine That¬
sache, die alle ältern Juristen, die schon vor 1879 im preußischen Staatsdienst
waren, erfahren konnten, eine Thatsache, zu der man sich damals ganz offen
ein einem der bedeutendsten, von Referendaren zu ihrer Ausbildung am liebsten
aufgesuchten Appellationsgerichte bei der Urteilsverkündigung bekannte. Man
muß die Bedeutung des Verantwortungsgefühls des Richters sehr niedrig
anschlagen oder ganz außer Acht lassen, um in der Berufung eine zuverlässige
Maßregel der Sicherung und Verbesserung der Rechtspflege zu scheu.
Die öffentliche Meinung, deren Urteil doch schließlich der einzige Ma߬
stab dafür ist, ob eine Rechtspflege befriedigt, ob sie gut oder verbesserungs¬
bedürftig ist, bedarf noch mehr der leitenden Grundsätze wie der Jurist, weil
sie sich nur mit diesen beschäftigen und unmöglich in die kleinen Einzelheiten
vertiefen kann wie der Fachmann. Es wäre deshalb verfehlt, in dem vor¬
liegenden Aufsatze, der sich nicht an den Juristen, sondern an die öffentliche
Meinung wendet, auf die vielfachen Mängel unsers Strafverfahrens im ein¬
zelnen einzugehen. Kurz hervorheben will ich nur noch die leicht erkennbaren
und sehr wesentlichen Mängel, die sich aus drei gesetzlichen Einrichtungen er¬
geben, und zwar aus der Bildung einzelner Kollegialgcrichte durch die geringe
Zahl von drei Mitgliedern und sodann aus den Vorschriften über die Eröff¬
nung des Hauptverfahrens und über die gerichtliche Eidesleistung.
Jeder Gerichtshof, der nur vou einem einzigen Richter besetzt ist, ist einem
Kollegialgericht ohne öffentliche Stimmabgabe vorzuziehen, da bei dem Einzel-
gcricht doch wenigstens eiuer vorhanden ist, der die volle Verantwortung
seines Spruches trägt. Das unbrauchbarste unter den Kollegialgerichten muß
aber das sein, das in der Besetzung mit drei Richtern zu entscheiden hat.
Ein solches Gericht läuft stets Gefahr, ein verschleiertes, seiner Vorteile ent¬
kleidetes Einzelgericht zu werden. Geschieht das durch die Überlegenheit eines
Mitgliedes, so ist der Schade verhältnismüßig am geringsten. Viel näher
liegt aber die Gefahr, daß der Vorsitzende durch unwillkürlichen Mißbrauch
seiner Stellung seine eigne überzeugungstreue Meinung durchsetzt. Wie sollte
das auch anders sein? Schon der Umstand, daß er die Beratung leitet, giebt
ihm die Macht, eine Sache nicht eher für spruchreif zu halten, als bis sich
wenigstens ein Beisitzer zu seiner Ansicht bequemt, dann aber auch sofort zur
Abstimmung zu schreiten. Man wird aber zugeben müssen, daß derselbe Vor¬
sitzende, wenn er allein auf sich augewiesen wäre, unter einem ganz andern
Verantwortlichkeitsgefühl mit sich selbst zu Rate gegangen wäre.
Jedes strafrechtliche Hauptverfahren, es mag mit einer Freisprechung oder
einer Verurteilung enden, setzt voraus, daß gegen deu Angeklagten ein Gerichts¬
beschluß ergangen ist, durch den er für hinreichend verdächtig erachtet wurde,
um vor Gericht in einem öffentlichen Verfahren abgeurteilt zu werden. Obwohl
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |