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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

dadurch aber würde zugleich der Sache in einer für den Richter anregenden
Weise gedient, besonders wenn jeder einzelne Richter genötigt würde, auch
die Gründe für seine Abstimmung öffentlich anzugeben. In der Schweiz hat
sich die öffentliche Stimmabgabe durchaus bewährt, und zu einer Zeit, wo
fich unsre hochmögenden Stützen der Gesellschaft zur Abschaffung der geheimen
Stimmabgabe bei der allgemeinen direkten Wahl zum Reichstage auf den
Mannesmut des abhängigen Arbeiters berufen, wird man doch wohl bei öffent¬
licher Urteilsnbstimmung an der überzeugungstreuen Festigkeit des unabhängige"
Richters nicht zweifeln dürfen.

Durch eine wenig glückliche Entwicklung werden bei uns alle öffentlichen
Angelegenheiten in die Parteipolitik hineingezerrt und dann mit einseitiger,
oft recht widerspruchsvoller, allen Gegengründen unzugänglicher Hartnäckigkeit
verfochten. Auch die Wiedereinführung der Berufung gegen die Urteile der
Strafkammern hat mit der liberalen Parteipolitik eigentlich nicht das geringste
zu schaffen. Und doch fordert ein demokratischer Reichstagsabgeordneter, ein
hervorragender Jurist und Parteimann, stürmisch die Wiedereinführung der
Berufung und spricht das größte Mißtrauen gegen die Besetzung und Unpar¬
teilichkeit der obern Gerichte aus. Dieser Vorgang zeigt recht deutlich, in
welcher drückenden Verlegenheit man sich befindet, und wie planlos und wider¬
spruchsvoll man hernmtappt. Die Urteile der Strafkammern unterliegen schon
jetzt ebenso wie die Urteile der Schwurgerichte bei einem falschen Verfahren
oder bei einer sonstigen Gesetzesverletzung dem Angriffe durch das Rechtsmittel
der Revision. Die Wiedereinführung der Berufung besagt nichts andres, als
daß auch gegen die Beweiswürdignng und die Strafzumessung ein Rechts¬
mittel gegeben werden soll. Die Beweiswürdigung kennt aber keine Regeln,
und es ist nicht abzusehen, weshalb ihr der höhere Verufsrichter besser gewachsen
sein soll als der Richter der ersten Instanz. Es ist vielmehr einleuchtend,
daß der Richter der höhern Instanz nicht in der Lage ist, durch die Beweis-
würdiguug ein gleich zuverlässiges Urteil zu gewinnen wie der erste Richter,
denn die Zuverlässigkeit jedes Beweismittels erblaßt durch den natürlichen
Gang der Dinge im Lauf der Zeit. Von der Beweiswürdigung läßt sich aber
die Strafzumesfuug nur gewaltsam trennen. Schon hiernach erscheint die
Einführung der Berufung verfehlt. Der Hauptfehler liegt jedoch tiefer: sie
wirkt geradezu darauf hiu, die Gerichte in zweifelhaften Sachen der Verant¬
wortung für eine leichtfertige Beweiswürdignng zu entheben. Die erste Instanz
sagt in solchen zweifelhaften Sachen: Wenn wir den sehr verdächtigen Ange¬
klagten verurteilen und uns irren, so mag er Berufung einlegen und das
höhere Gericht die Wahrheit ergründen. Das Berufungsgericht sagt aber zur
Beseitigung seiner Bedenken: Dem ersten Richter lagen die Beweise unmittelbar
vor Augen, er hat es mit seinem Gewissen ausgemacht und die Überzeugung
von der Schuld des Angeklagten gewonnen; daran zu rütteln wäre die Über-


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

dadurch aber würde zugleich der Sache in einer für den Richter anregenden
Weise gedient, besonders wenn jeder einzelne Richter genötigt würde, auch
die Gründe für seine Abstimmung öffentlich anzugeben. In der Schweiz hat
sich die öffentliche Stimmabgabe durchaus bewährt, und zu einer Zeit, wo
fich unsre hochmögenden Stützen der Gesellschaft zur Abschaffung der geheimen
Stimmabgabe bei der allgemeinen direkten Wahl zum Reichstage auf den
Mannesmut des abhängigen Arbeiters berufen, wird man doch wohl bei öffent¬
licher Urteilsnbstimmung an der überzeugungstreuen Festigkeit des unabhängige»
Richters nicht zweifeln dürfen.

Durch eine wenig glückliche Entwicklung werden bei uns alle öffentlichen
Angelegenheiten in die Parteipolitik hineingezerrt und dann mit einseitiger,
oft recht widerspruchsvoller, allen Gegengründen unzugänglicher Hartnäckigkeit
verfochten. Auch die Wiedereinführung der Berufung gegen die Urteile der
Strafkammern hat mit der liberalen Parteipolitik eigentlich nicht das geringste
zu schaffen. Und doch fordert ein demokratischer Reichstagsabgeordneter, ein
hervorragender Jurist und Parteimann, stürmisch die Wiedereinführung der
Berufung und spricht das größte Mißtrauen gegen die Besetzung und Unpar¬
teilichkeit der obern Gerichte aus. Dieser Vorgang zeigt recht deutlich, in
welcher drückenden Verlegenheit man sich befindet, und wie planlos und wider¬
spruchsvoll man hernmtappt. Die Urteile der Strafkammern unterliegen schon
jetzt ebenso wie die Urteile der Schwurgerichte bei einem falschen Verfahren
oder bei einer sonstigen Gesetzesverletzung dem Angriffe durch das Rechtsmittel
der Revision. Die Wiedereinführung der Berufung besagt nichts andres, als
daß auch gegen die Beweiswürdignng und die Strafzumessung ein Rechts¬
mittel gegeben werden soll. Die Beweiswürdigung kennt aber keine Regeln,
und es ist nicht abzusehen, weshalb ihr der höhere Verufsrichter besser gewachsen
sein soll als der Richter der ersten Instanz. Es ist vielmehr einleuchtend,
daß der Richter der höhern Instanz nicht in der Lage ist, durch die Beweis-
würdiguug ein gleich zuverlässiges Urteil zu gewinnen wie der erste Richter,
denn die Zuverlässigkeit jedes Beweismittels erblaßt durch den natürlichen
Gang der Dinge im Lauf der Zeit. Von der Beweiswürdigung läßt sich aber
die Strafzumesfuug nur gewaltsam trennen. Schon hiernach erscheint die
Einführung der Berufung verfehlt. Der Hauptfehler liegt jedoch tiefer: sie
wirkt geradezu darauf hiu, die Gerichte in zweifelhaften Sachen der Verant¬
wortung für eine leichtfertige Beweiswürdignng zu entheben. Die erste Instanz
sagt in solchen zweifelhaften Sachen: Wenn wir den sehr verdächtigen Ange¬
klagten verurteilen und uns irren, so mag er Berufung einlegen und das
höhere Gericht die Wahrheit ergründen. Das Berufungsgericht sagt aber zur
Beseitigung seiner Bedenken: Dem ersten Richter lagen die Beweise unmittelbar
vor Augen, er hat es mit seinem Gewissen ausgemacht und die Überzeugung
von der Schuld des Angeklagten gewonnen; daran zu rütteln wäre die Über-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/590>, abgerufen am 28.11.2024.