Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

es sich nun niemals wird vermeiden lassen, daß sich auch auf einen Unschul¬
digen ein begründeter Verdacht lenkt, so muß es doch einen Schutz dagegen
geben, daß jemand auf Grund eines bloß leichtfertigen Verdachts in Anklage-
zustand versetzt wird. Auch der Gesetzgeber hat auf diesen Schutz Wert gelegt
und ihn zu gewahren beabsichtigt. Ihn einzuführen ist ihm aber nicht ge¬
lungen. Die drei Berufsrichter, die auf Grund der Anklage und der er-
gaugnen Akten über die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen aller Ver¬
brechen und aller nur irgend erheblichen Vergehen zu beschließen haben, können
keine zulängliche Bcweiswürdigung vornehmen. Aus den Akten allein kann
man eine Überzeugung von dem bösen Willen des Angeschuldigten bei eiuer
von ihm vorgenommueu That, von der Glaubwürdigkeit der Zeugen, bei sich
widersprechenden Zeugenaussagen von der größern Glaubwürdigkeit der einen
Aussage gegenüber der andern nicht gewinnen. Die Richter sind also darauf
angewiesen, ihren Verdacht nur äußerlichen Thatsachen zu entnehmen, da ihnen
im Grunde genommen jede maßgebliche Beweiswürdigung verschlossen ist und
erst der mündlichen Hauptverhandlung vorbehalten bleibt. Wollten sie sich
aber dennoch einer solchen Beweiswürdigung unterziehen und den Angeschul¬
digten gegen den Antrag der Anklagebehörde für nicht hinreichend verdächtig
erachten, um das Hauptverfahren gegen ihn zu eröffnen, so würde dieser Beschluß,
bei der Art und Weise, wie unsre Gesetze ohne Verstoß gehandhabt werden können
und im Drange der Geschäfte stets gehandhabt werden, gewöhnlich nur als eine
unnütze Weiterung angesehen werden müssen. Während nämlich jene Beschlüsse,
wenn sie dem Antrage der Staatsanwaltschaft folgen, von dem Angeklagten
nicht angegriffen werden können, so sind sie umgekehrt, wenn sie abweichend
von den Anträgen der Staatsanwaltschaft die Eröffnung des Hauptverfahrens
ablehnen, dem der Staatsanwaltschaft zustehenden Rechtsmittel der Beschwerde
ausgesetzt. Die Veschwerdeinstanz begnügt sich aber durchgängig schon damit, daß
die Unschuld nicht klar ersichtlich ist, um eine endgiltige Aufklärung durch die
mündliche Hauptverhandlung zu verlangen und demgemäß deren Eröffnung zu be¬
schließen. Daß die Eröffnuugsbeschlüsse zu einem bedeutungslosen Formenwert
herabsinken, ist ein durch unser unzweckmäßiges Verfahren verursachtes Übel, dem
durch Verbesserung der Gesetze entgegengetreten werden muß, das aber durch
Wiedereinführung der Berufung weder beseitigt noch unschädlich gemacht werden
kann. Soll auch hier ein leitender Grundsatz aufgestellt werden, so ist es der,
daß der mit der Eröffnung des Hauptverfahres betraute Richter in die Lage gesetzt
werden muß, eine Beweiswürdigung vornehmen zu können. Er muß die Vor¬
ermittlungen selbst gepflogen haben, auch muß der Eröffnungsbeschluß von ihm
allein, dem erfahrnen, zuverlässigen Einzelrichter, also nicht von einem Kollegium
ausgehen, während die Beschwerde gegen die Stichhaltigkeit der von ihm an¬
zuführenden Verdachtsgrüude auch dem Angeklagten nicht versagt werden sollte.

In jedem christlichen Staate wird die Verletzung der Eidespflicht grund-


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

es sich nun niemals wird vermeiden lassen, daß sich auch auf einen Unschul¬
digen ein begründeter Verdacht lenkt, so muß es doch einen Schutz dagegen
geben, daß jemand auf Grund eines bloß leichtfertigen Verdachts in Anklage-
zustand versetzt wird. Auch der Gesetzgeber hat auf diesen Schutz Wert gelegt
und ihn zu gewahren beabsichtigt. Ihn einzuführen ist ihm aber nicht ge¬
lungen. Die drei Berufsrichter, die auf Grund der Anklage und der er-
gaugnen Akten über die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen aller Ver¬
brechen und aller nur irgend erheblichen Vergehen zu beschließen haben, können
keine zulängliche Bcweiswürdigung vornehmen. Aus den Akten allein kann
man eine Überzeugung von dem bösen Willen des Angeschuldigten bei eiuer
von ihm vorgenommueu That, von der Glaubwürdigkeit der Zeugen, bei sich
widersprechenden Zeugenaussagen von der größern Glaubwürdigkeit der einen
Aussage gegenüber der andern nicht gewinnen. Die Richter sind also darauf
angewiesen, ihren Verdacht nur äußerlichen Thatsachen zu entnehmen, da ihnen
im Grunde genommen jede maßgebliche Beweiswürdigung verschlossen ist und
erst der mündlichen Hauptverhandlung vorbehalten bleibt. Wollten sie sich
aber dennoch einer solchen Beweiswürdigung unterziehen und den Angeschul¬
digten gegen den Antrag der Anklagebehörde für nicht hinreichend verdächtig
erachten, um das Hauptverfahren gegen ihn zu eröffnen, so würde dieser Beschluß,
bei der Art und Weise, wie unsre Gesetze ohne Verstoß gehandhabt werden können
und im Drange der Geschäfte stets gehandhabt werden, gewöhnlich nur als eine
unnütze Weiterung angesehen werden müssen. Während nämlich jene Beschlüsse,
wenn sie dem Antrage der Staatsanwaltschaft folgen, von dem Angeklagten
nicht angegriffen werden können, so sind sie umgekehrt, wenn sie abweichend
von den Anträgen der Staatsanwaltschaft die Eröffnung des Hauptverfahrens
ablehnen, dem der Staatsanwaltschaft zustehenden Rechtsmittel der Beschwerde
ausgesetzt. Die Veschwerdeinstanz begnügt sich aber durchgängig schon damit, daß
die Unschuld nicht klar ersichtlich ist, um eine endgiltige Aufklärung durch die
mündliche Hauptverhandlung zu verlangen und demgemäß deren Eröffnung zu be¬
schließen. Daß die Eröffnuugsbeschlüsse zu einem bedeutungslosen Formenwert
herabsinken, ist ein durch unser unzweckmäßiges Verfahren verursachtes Übel, dem
durch Verbesserung der Gesetze entgegengetreten werden muß, das aber durch
Wiedereinführung der Berufung weder beseitigt noch unschädlich gemacht werden
kann. Soll auch hier ein leitender Grundsatz aufgestellt werden, so ist es der,
daß der mit der Eröffnung des Hauptverfahres betraute Richter in die Lage gesetzt
werden muß, eine Beweiswürdigung vornehmen zu können. Er muß die Vor¬
ermittlungen selbst gepflogen haben, auch muß der Eröffnungsbeschluß von ihm
allein, dem erfahrnen, zuverlässigen Einzelrichter, also nicht von einem Kollegium
ausgehen, während die Beschwerde gegen die Stichhaltigkeit der von ihm an¬
zuführenden Verdachtsgrüude auch dem Angeklagten nicht versagt werden sollte.

In jedem christlichen Staate wird die Verletzung der Eidespflicht grund-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0592" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223534"/>
          <fw type="header" place="top"> Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1650" prev="#ID_1649"> es sich nun niemals wird vermeiden lassen, daß sich auch auf einen Unschul¬<lb/>
digen ein begründeter Verdacht lenkt, so muß es doch einen Schutz dagegen<lb/>
geben, daß jemand auf Grund eines bloß leichtfertigen Verdachts in Anklage-<lb/>
zustand versetzt wird. Auch der Gesetzgeber hat auf diesen Schutz Wert gelegt<lb/>
und ihn zu gewahren beabsichtigt. Ihn einzuführen ist ihm aber nicht ge¬<lb/>
lungen. Die drei Berufsrichter, die auf Grund der Anklage und der er-<lb/>
gaugnen Akten über die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen aller Ver¬<lb/>
brechen und aller nur irgend erheblichen Vergehen zu beschließen haben, können<lb/>
keine zulängliche Bcweiswürdigung vornehmen. Aus den Akten allein kann<lb/>
man eine Überzeugung von dem bösen Willen des Angeschuldigten bei eiuer<lb/>
von ihm vorgenommueu That, von der Glaubwürdigkeit der Zeugen, bei sich<lb/>
widersprechenden Zeugenaussagen von der größern Glaubwürdigkeit der einen<lb/>
Aussage gegenüber der andern nicht gewinnen. Die Richter sind also darauf<lb/>
angewiesen, ihren Verdacht nur äußerlichen Thatsachen zu entnehmen, da ihnen<lb/>
im Grunde genommen jede maßgebliche Beweiswürdigung verschlossen ist und<lb/>
erst der mündlichen Hauptverhandlung vorbehalten bleibt. Wollten sie sich<lb/>
aber dennoch einer solchen Beweiswürdigung unterziehen und den Angeschul¬<lb/>
digten gegen den Antrag der Anklagebehörde für nicht hinreichend verdächtig<lb/>
erachten, um das Hauptverfahren gegen ihn zu eröffnen, so würde dieser Beschluß,<lb/>
bei der Art und Weise, wie unsre Gesetze ohne Verstoß gehandhabt werden können<lb/>
und im Drange der Geschäfte stets gehandhabt werden, gewöhnlich nur als eine<lb/>
unnütze Weiterung angesehen werden müssen. Während nämlich jene Beschlüsse,<lb/>
wenn sie dem Antrage der Staatsanwaltschaft folgen, von dem Angeklagten<lb/>
nicht angegriffen werden können, so sind sie umgekehrt, wenn sie abweichend<lb/>
von den Anträgen der Staatsanwaltschaft die Eröffnung des Hauptverfahrens<lb/>
ablehnen, dem der Staatsanwaltschaft zustehenden Rechtsmittel der Beschwerde<lb/>
ausgesetzt. Die Veschwerdeinstanz begnügt sich aber durchgängig schon damit, daß<lb/>
die Unschuld nicht klar ersichtlich ist, um eine endgiltige Aufklärung durch die<lb/>
mündliche Hauptverhandlung zu verlangen und demgemäß deren Eröffnung zu be¬<lb/>
schließen. Daß die Eröffnuugsbeschlüsse zu einem bedeutungslosen Formenwert<lb/>
herabsinken, ist ein durch unser unzweckmäßiges Verfahren verursachtes Übel, dem<lb/>
durch Verbesserung der Gesetze entgegengetreten werden muß, das aber durch<lb/>
Wiedereinführung der Berufung weder beseitigt noch unschädlich gemacht werden<lb/>
kann. Soll auch hier ein leitender Grundsatz aufgestellt werden, so ist es der,<lb/>
daß der mit der Eröffnung des Hauptverfahres betraute Richter in die Lage gesetzt<lb/>
werden muß, eine Beweiswürdigung vornehmen zu können. Er muß die Vor¬<lb/>
ermittlungen selbst gepflogen haben, auch muß der Eröffnungsbeschluß von ihm<lb/>
allein, dem erfahrnen, zuverlässigen Einzelrichter, also nicht von einem Kollegium<lb/>
ausgehen, während die Beschwerde gegen die Stichhaltigkeit der von ihm an¬<lb/>
zuführenden Verdachtsgrüude auch dem Angeklagten nicht versagt werden sollte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1651" next="#ID_1652"> In jedem christlichen Staate wird die Verletzung der Eidespflicht grund-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0592] Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg es sich nun niemals wird vermeiden lassen, daß sich auch auf einen Unschul¬ digen ein begründeter Verdacht lenkt, so muß es doch einen Schutz dagegen geben, daß jemand auf Grund eines bloß leichtfertigen Verdachts in Anklage- zustand versetzt wird. Auch der Gesetzgeber hat auf diesen Schutz Wert gelegt und ihn zu gewahren beabsichtigt. Ihn einzuführen ist ihm aber nicht ge¬ lungen. Die drei Berufsrichter, die auf Grund der Anklage und der er- gaugnen Akten über die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen aller Ver¬ brechen und aller nur irgend erheblichen Vergehen zu beschließen haben, können keine zulängliche Bcweiswürdigung vornehmen. Aus den Akten allein kann man eine Überzeugung von dem bösen Willen des Angeschuldigten bei eiuer von ihm vorgenommueu That, von der Glaubwürdigkeit der Zeugen, bei sich widersprechenden Zeugenaussagen von der größern Glaubwürdigkeit der einen Aussage gegenüber der andern nicht gewinnen. Die Richter sind also darauf angewiesen, ihren Verdacht nur äußerlichen Thatsachen zu entnehmen, da ihnen im Grunde genommen jede maßgebliche Beweiswürdigung verschlossen ist und erst der mündlichen Hauptverhandlung vorbehalten bleibt. Wollten sie sich aber dennoch einer solchen Beweiswürdigung unterziehen und den Angeschul¬ digten gegen den Antrag der Anklagebehörde für nicht hinreichend verdächtig erachten, um das Hauptverfahren gegen ihn zu eröffnen, so würde dieser Beschluß, bei der Art und Weise, wie unsre Gesetze ohne Verstoß gehandhabt werden können und im Drange der Geschäfte stets gehandhabt werden, gewöhnlich nur als eine unnütze Weiterung angesehen werden müssen. Während nämlich jene Beschlüsse, wenn sie dem Antrage der Staatsanwaltschaft folgen, von dem Angeklagten nicht angegriffen werden können, so sind sie umgekehrt, wenn sie abweichend von den Anträgen der Staatsanwaltschaft die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnen, dem der Staatsanwaltschaft zustehenden Rechtsmittel der Beschwerde ausgesetzt. Die Veschwerdeinstanz begnügt sich aber durchgängig schon damit, daß die Unschuld nicht klar ersichtlich ist, um eine endgiltige Aufklärung durch die mündliche Hauptverhandlung zu verlangen und demgemäß deren Eröffnung zu be¬ schließen. Daß die Eröffnuugsbeschlüsse zu einem bedeutungslosen Formenwert herabsinken, ist ein durch unser unzweckmäßiges Verfahren verursachtes Übel, dem durch Verbesserung der Gesetze entgegengetreten werden muß, das aber durch Wiedereinführung der Berufung weder beseitigt noch unschädlich gemacht werden kann. Soll auch hier ein leitender Grundsatz aufgestellt werden, so ist es der, daß der mit der Eröffnung des Hauptverfahres betraute Richter in die Lage gesetzt werden muß, eine Beweiswürdigung vornehmen zu können. Er muß die Vor¬ ermittlungen selbst gepflogen haben, auch muß der Eröffnungsbeschluß von ihm allein, dem erfahrnen, zuverlässigen Einzelrichter, also nicht von einem Kollegium ausgehen, während die Beschwerde gegen die Stichhaltigkeit der von ihm an¬ zuführenden Verdachtsgrüude auch dem Angeklagten nicht versagt werden sollte. In jedem christlichen Staate wird die Verletzung der Eidespflicht grund-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/592
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/592>, abgerufen am 27.07.2024.